: „Du sollst leben“
PORTRÄT Der Jude Salomon Perel überlebte die Schoa als „Josef Perjell“ in der Hitlerjugend. Heute schafft er neue Zeitzeugen – in Schulen
VON PHILIPP GESSLER
Duschen war lebensgefährlich. Jupp wählte – er hatte Glück, denn es gab keine Gemeinschaftsdusche – möglichst die Duschkabine in der Ecke, mit einem Kleiderhaken an der Wand. Dort zog er sich schnell aus, seinen Kameraden den Rücken zukehrend, und hüpfte in seine Kabine. Ordentlich Schaum musste er machen, was schwer war mit dieser Seife. War die letzte Duschkabine schon besetzt, zog Jupp seine Unterhose erst unter der Dusche aus. Aber auch das war gefährlich, weil es Misstrauen säte. Tödliches Misstrauen. Hätten seine 17- oder 18-jährigen Kameraden gesehen, dass ihr Kumpel beschnitten ist, wäre das sein Todesurteil gewesen.
Es sollte in diesen Jahren des Krieges keinen Juden mehr in Deutschland geben, keinen in ganz Europa. Und erst recht nicht hier: in der Akademie für Jugendführung der Hitlerjugend in Braunschweig.
Ein absurdes Heldenepos
Das Schicksal des jungen Juden Salomon („Sally“) Perel, der getarnt als Hitlerjunge Josef oder Jupp Perjell den Holocaust überlebte, gehört wohl zu den verrücktesten Geschichten, die das 20. Jahrhundert zu erzählen hat. Es ist ein Heldenepos voller Tragik und Brutalität, Absurdität und Menschlichkeit, vergleichbar am ehesten dem Simplicissimus des Hans Jacob Christoph von Grimmelshausen aus dem Dreißigjährigen Krieg.
Seit fast 20 Jahren erzählt Sally Perel diese, seine unglaubliche Geschichte. Zuerst erschien seine Autobiografie 1990 auf Französisch, dann auf Hebräisch, schließlich auf Deutsch und Englisch. Unter dem Titel „Hitlerjunge Salomon“ wurde sie 1990 von Agnieszka Holland verfilmt. Etwa zweimal jährlich, und gerade jetzt wieder, ist Perel auf Lesereise, meist in Schulen. „Die Nachfrage nach mir“, sagt er mit leichter Ironie, „ist kolossal. Ich könnte eigentlich zwölf Monate 24 Stunden hier in Deutschland sein.“ Das überrascht ihn. Ursprünglich dachte er, das Interesse an seiner Geschichte würde im Laufe der Zeit abnehmen – doch das Gegenteil ist der Fall: „Das Interesse nimmt immer mehr zu.“ Warum? „Vielleicht weil in der Geschichte so viel drin ist. Ich war auf beiden Seiten, ich war Opfer und Täter – zumindest für die Opfer. Und ich erzähle die Wahrheit.“
Die Wahrheit – das hat bei Perel eine besondere Note, denn ausgerechnet die krasse Unwahrheit, eine spontane Notlüge, rettete sein Leben. Geboren 1925 im niedersächsischen Peine, wanderte er mit seiner Familie 1935 nach Polen aus, um der Judenverfolgung der Nazis zu entkommen. Als 1939 Deutschland den westlichen Teil Polens eroberte, floh Perel mit seinem Bruder ins östliche Polen, das im Zuge des Hitler-Stalin-Paktes von den Sowjets besetzt worden war. „Den Eltern war klar: Es ist ein Abschied für immer“, erzählt Perel. Die letzten Worte seiner Mutter an ihn waren: „Du sollst leben!“ Er habe dies als einen „Befehl“ gesehen, der ihm stets Kraft gegeben, ja das Leben gerettet habe, sagt er.
Als die Nazis 1941 auch den östlichen Teil Polens und damit die Sowjetunion angriffen, wurde Perel gefangen genommen – und er durchlebte die „entscheidende Minute meines Lebens“. Gefragt, ob er Jude sei, antwortete Perel: „Ich bin kein Jude, ich bin Volksdeutscher.“ Alles, was danach folgte, ergab sich aus dieser Lüge, aus der Verleugnung seiner Identität. Manche Holocaust-Überlebende schildern ihr Gefühl von Schuld, weil sie überlebt haben. Perel ist dies fern: „Ich habe keine Schuldgefühle. Ich habe keinen Grund, mich bei irgendjemandem dafür zu entschuldigen, dass ich überlebt habe.“ Denn: „Ich habe mein Leben nicht auf Kosten anderer Leben gerettet – und es gab solche Fälle. Ich wusste, ich musste so handeln, um zu überleben. Und das Schicksal hat mir diesen Überlebensweg einfach vorgegeben. Die Initiative lang ja nicht bei mir. Ich war eher Statist. Jeder würde so handeln.“
Ein provisorisches Leben
Zwei Mal flog Perels Lüge auf. Zunächst an der Front in seiner Zeit als Dolmetscher bei der 12. (Pommerschen) Panzerdivision der Wehrmacht. Russisch hatte er in seiner Zeit im sowjetisch besetzten Teil Polens gelernt. Heinz Kelzenberg, ein schwuler Sanitätsoffizier, den er mochte, näherte sich eines Tages Perel, während der sich in einem Bauernhaus wusch. Überrascht über diese Annäherung, die eher dem Versuch einer Vergewaltigung glich, so erinnert sich Perel, sprang er zur Seite, so dass Kelzenberg ihn auch von vorne nackt sehen konnte – seine Tarnung war dahin. Doch Kelzenberg reagierte auf den wechselseitigen Schock unerwartet: „Ich tue dir nichts und verrate auch dein Geheimnis den andern nicht“, sagte er. „Weißt du, es gibt noch ein anderes Deutschland.“ Dies war, so erinnert sich Perel, „ein Moment der wahrsten Menschlichkeit“. Wenig später fiel Kelzenberg vor Leningrad – er starb in den Armen Perels. „Ich fühlte mich als doppelte Waise“, sagt er.
Ein zweites Mal wurde Perel während seiner Zeit in der HJ enttarnt. Er war auf die HJ-Schule empfohlen worden und konnte die Aufnahme in diese Kaderschmiede ohne triftigen Grund nicht ablehnen. Perel verliebte sich zu dieser Zeit in Leni Latsch, ein BDM-Mädel – und Leni erwiderte seine Liebe. Sehr viel mehr als heftiges Küssen konnte er sich mit Leni nicht erlauben. Ausgerechnet die Mutter Lenis leitete Perel mit einer gezielten Frage unter vier Augen dorthin, sich als Jude zu outen. Ein Moment der Schwäche. Und auch hier hatte Perel Glück. Lenis Mutter, eine gläubige Katholikin, küsste ihm nach seinem Geständnis auf die Stirn, versicherte, die Sache für sich zu behalten – und ermahnte Perel sogar, ihrer Tochter Leni, seiner Freundin, nichts zu erzählen. „Die Kinder sind heutzutage so ganz anders“, sagte sie nur.
Es sind diese Momente der Menschlichkeit, die die Ohren und Herzen für die Geschichte Perels gerade bei jungen Menschen öffnen – wenn er in Schulen liest, hören ihm hunderte Jugendliche gespannt zu, eine Erfahrung vieler Zeitzeugen. Und Perel bleibt meist keinerlei Erklärung schuldig. So erzählt er völlig entspannt, wie er in der HJ-Schule vergeblich versuchte, seine Vorhaut mit Wollfäden zu verlängern. Bis er den Versuch abbrach, weil sich alles entzündete.
Perels Geschichten bewegen sich häufig auf dem schmalen Grat zwischen Horror und Komik. Eines Tages rief ihn der Lehrer im Rassekunde-Unterricht an der HJ-Schule nach vorne an die Tafel. Perel glaubte schon, als Jude enttarnt zu werden. Doch der Rasse-Experte verkündete: „Schaut euch alle Josef an! Er ist ein typischer Abkömmling der ostbaltischen Rasse.“ So viel zur NS-Rassekunde.
Perel erzählt von dem „Gift“ der NS-Ideologie, dem er als junger Mann in der HJ-Schule ausgesetzt war – und wie es selbst bei ihm zu wirken begann. „Ich war sogar etwas traurig, dass Deutschland den Krieg verloren hat“, erinnert er sich an die ersten Nachkriegstage. Perel geht sogar noch etwas weiter, bekennt sich heute zu einer gewissen Schizophrenie: „Solange ich den Hitlerjungen in mir trage, liebe ich ihn auch.“
Diese Erfahrung, dass es den Nazis fast gelang, ihn als jungen Mann von ihrer hasserfüllten Ideologie zu überzeugen – diese Erfahrung treibt Perel heute an. Immer wieder sagt er, man müsse die jungen Menschen zu kritischem Denken erziehen, auch deshalb tourt er mit seiner Geschichte so oft durch Schulen. Er sagt den Schülern: „Ich komme nicht, um Schuldgefühle zu wecken. Ich komme nicht, um euer Gedächtnis mit der vollen Wahrheit zu beschweren, sondern um den Verstand zu erleuchten.“
Das ist mächtig pathetisch, aber die jungen Menschen verstehen es recht. Es ist, als verbinde den 84-Jährigen ein unsichtbares Band mit den jungen Leuten, die sieben Jahrzehnte jünger sind als er. „Sehr oft kommen nach meiner Lesung Schülerinnen – meist Schülerinnen – mit Tränen in den Augen zu mir und bitten: ‚Herr Perel, verzeihen Sie uns.‘ Erst einmal weine ich da mit. Und ich sage noch: ‚Ich verzeihe nicht, weil ich euch nichts zu verzeihen habe.‘“ Das ist Perel wichtig: „Schuld ist nicht erblich.“
Gleichwohl hat das Geschehen Folgen noch heute – und die sieht Perel zuallererst für sich: „Ich verbinde meine Überlebensgeschichte mit den nötigen Konsequenzen für heute: für den Frieden. Für Völkerverständigung. Das ist für mich eine logische Folge des Holocaust“, betont er. Konkret heißt das: „Ich bin in der israelischen Friedensbewegung“, sagt Perel. „Ich bin dafür, dass die Palästinenser einen eigenen Staat bekommen.“
Nicht wenige Holocaust-Überlebende finden gerade am Ende ihres Lebens zu einer natürlichen Radikalität und grenzenüberschreitenden Humanität, die atemberaubend ist. Und vielleicht bedingt sich alles drei ja auch: eine radikale Menschlichkeit kurz vor dem Ende. Auch Perel weicht der Erkenntnis nicht aus, dass bald die mündliche Überlieferung durch die Überlebenden des Holocaust enden wird. Aber: „Das motiviert mich auch. Ich sage immer den Schülern, wenn ich gehe: ‚Ich hoffe, ich habe neue Zeitzeugen gewonnen. Ihr sollt sie sein. Damit beauftrage ich euch. Überliefert es weiter!‘“
Salomon, Josef, Sally, Jupp, erzähl deine Geschichte noch einmal! Und immer wieder! Immer wieder!