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Archiv-Artikel

Mit der Bombe im Tornister

Mit den Terroranschlägen in London ist auch der Rucksack ins Visier geraten. Das Accessoire gilt nicht mehr als Symbol für jugendliche Umtriebigkeit und Weltläufigkeit, sondern ist Verdachtsmoment

VON MARTIN REICHERT

Der Mensch hat gewöhnlich Angst vor dem Ungewohnten und Neuen, noch unangenehmer wird es jedoch, wenn einem das Vertraute plötzlich in Schrecken versetzt: Es gibt wohl kaum einen Gegenstand, der alltäglicher sein könnte als der gemeine Rucksack. Es gibt ihn in allen Farben und Materialien, von Eastpak und Aldi, aus Leder und Jeansstoff. Fast jeder trägt einen mit sich herum, besonders junge Leute. Er gehört einfach dazu, manchmal nervt er auch, insbesondere dann, wenn man ihn in der U-Bahn ins Gesicht gedrückt bekommt, weil sein Träger nicht in der Lage ist, seinen Aktionsradius einzuschätzen. Ansonsten käme niemand auf die Idee, diesem Wanderbeutel besondere Aufmerksamkeit zu schenken.

Seit den Bombenanschlägen von London ist nicht nur der Grad an Aufmerksamkeit gestiegen, sondern auch deren Qualität. Seit islamistische Fanatiker Rucksäcke dazu benutzen, Sprengsätze zu transportieren und in U-Bahnen oder Bussen zu zünden, gilt das Accessoire als verdächtiges Indiz. Der Rucksack wird nunmehr als Verdachtsmoment identifiziert. Seine Träger macht er automatisch zum Bestandteil eines kriminologischen Systems, das in einer Jahrhunderte alten Tradition über die Differenz verdächtig/unverdächtig Täter anhand bestimmter Merkmale identifiziert. Was hat der junge Mann gegenüber wohl in seinem Rucksack? Beult sich dort etwa Plastiksprengstoff? Warum öffnet er den Reißverschluss …? Das Gefühl der Bedrohung steigt insbesondere dann, wenn der Rucksack fernab seiner Bestimmung nicht getragen wird, sondern irgendwo verloren rumsteht, auf dem Bahnhof oder in der Fußgängerzone.

Die islamistischen Terroristen nutzen die globale Infrastruktur von U-Bahn bis Internet, um ihre tödliche Hassbotschaft in die Welt zu tragen. Und als Carrier nutzen sie in Europa neuerdings blutjunge Männer, die genau wegen der Alltäglichkeit des Rucksacks sich unauffällig und unverdächtig im urbanen Raum bewegen können. Zudem verweist der Rucksackgebrauch der jungen Gotteskrieger auf die eigentliche Herkunft des Gegenstandes: den soldatischen Tornister.

Neben der militärischen Konnotation des Rucksacks verweist sein Gebrauch auf eine zweite: Jugendlichkeit. Nicht erst die Backpacker und Rucksacktouristen haben die jugendliche Aura des Accessoires geprägt. Sie bekam der Rucksack bereits durch die angelsächsischen Pfadfinder und die Deutsche Jugendbewegung. Wandervögel und Boyscouts schnallten sich ihr Ränzlein um, zogen durch die Wälder und sangen Volkslieder: immer unterwegs, auf der Suche, mobil und unabhängig.

Die modernen Backpacker setzen diese Tradition letztendlich fort. Der Rucksack ist ein Symbol für jugendliche Umtriebigkeit und Unabhängigkeitsstreben, sei es auf großer Fahrt oder im Alltag des Großstadtdschungels – er ist das Accessoire des jungen Menschen, der den Globus erkundet, dem die Welt offen steht. Ganz einfach, weil er sein Leben noch vor sich hat. Es ist perfide und doch nicht überraschend, dass die Islamisten diesen Verteilerweg für sich erschlossen haben. Sie führen ihren Kampf gegen die westliche Gesellschaft bewusst mit deren Utensilien und Symbolen.