: Der späte Sohn
Er spricht kein Deutsch, will nicht in Deutschland leben und auch nicht arbeiten. Trotzdem hat Pierre Mailait alles dafür getan, die deutsche Staatsbürgerschaft zu erhalten – eine Etappe auf seinem mühsamen Weg der Vatersuche
■ Bis zu 200.000 Kinder sind, so der Historiker Fabrice Virgili, von Wehrmachtsoldaten in Frankreich gezeugt worden. 2008 hat der französische Außenminister Kouchner eine Anerkennung für diese Kinder angeregt. Im Februar 2009 öffnet die Bundesregierung ihnen den Weg zur deutschen Staatsangehörigkeit. Im Konsulargebiet Paris sind bislang 24 Anträge eingegangen. Für die „Kriegskinder“ aus den anderen ehemals besetzten Gebieten gibt es keine Regelung. Paris denkt über ein „Angebot“ an Deutsche nach, die aus Verbindungen zwischen französischen Kriegsgefangenen mit deutschen Frauen entstanden.
AUS ROUMARE DOROTHEA HAHN
Der Mann spricht kein Wort Deutsch. Er weiß nicht, wann der deutsche Nationalfeiertag ist. Und er hat nicht vor, in Deutschland zu arbeiten oder sich dort niederzulassen. Trotzdem wird Pierre Mailait am Mittwoch die deutsche Staatsangehörigkeit bekommen. Sie hat vor allem symbolischen Wert: als Annäherung an den Vater.
Mit erster Staatsangehörigkeit wird Pierre Mailait Franzose bleiben. Und auch die Normandie, wo er sein ganzes Leben verbracht hat, will er nicht verlassen. Er bleibt in der Vallée de la Seine, im Seine-Tal kurz hinter der Großstadt Rouen, wo er mit seiner Frau einen Bungalow bewohnt. Wo die drei Kinder zur Welt gekommen sind. Und wo ihn die acht Enkel besuchen.
Die Einbürgerung des 67-Jährigen ist so glatt über die Bühne gegangen wie selten. Am 5. Mai reicht Pierre Mailait seinen Antrag bei der deutschen Botschaft in Paris ein. Um seine Abstammung glaubhaft zu machen, fügt er Wehrmachtunterlagen über seinen Vater bei: dessen Einsatz in Frankreich und der Sowjetunion. Dessen Lungenprellung. Und dessen Gehörschaden durch einen Granateinschlag. Gebühren muss er nicht zahlen. Ein Einbürgerungstest ist in seinem Fall auch nicht nötig. Seit die Bundesregierung entschieden hat, dass Franzosen wie Pierre Mailait – „Kriegskinder“ mit einer französischen Mutter und einem deutschen Vater – die deutsche Staatsangehörigkeit bekommen können, sind solche Anträge Formsache.
Für den neuen Deutschen ist die Einbürgerung eine weitere Etappe auf der mühsamen Vatersuche. Am Mittwoch wird Pierre Mailait sich für die Zeremonie „schön machen“. Und wird mit Aline, seiner Frau, zur Botschaft im eineinhalb Stunden entfernten Paris fahren. Dort erhält er seine Einbürgerungsurkunde sowie eine Belehrung über die Rechte von „Mehrstaatern“. Pierre Mailait erwartet keine Unterstützung von Deutschland. Schon gar keine materielle. „Ich brauche nichts“, sagt er. „Ich will nur anerkannt werden. Als moralische Reparation.“
Seit er weiß, dass er deutsch wird, spricht Pierre Mailait viel von seiner neuen Identität. Bloß seinen Mitstreitern aus der Vereinigung der Kriegsveteranen in dem normannischen Dorf, mit denen er jedes Jahr im Mai und im November Kränze zum Kriegsdenkmal von Roumare trägt, hat er bislang nichts gesagt. Er selbst ist Veteran des Algerienkriegs. Er will die Veteranen, die 1940 gegen die Deutschen gekämpft haben, nicht brüskieren.
Die Suche nach seinen deutschen Wurzeln wird für Mailait nach der Zeremonie in der Botschaft weitergehen. Sein siebenjähriger Enkel hat gesagt: „Opa muss nun Deutsch lernen.“ Und der Großvater will es tatsächlich versuchen: „Auch wenn das in meinem Alter nicht einfach ist.“ Vor allem aber will er seine „neue Familie“ in Norddeutschland kennenlernen: Eva, die Halbschwester, mit der er bereits mithilfe eines Übersetzungsprogramms Mails wechselt, und Peter, den sechs Jahre jüngeren Halbbruder, der denselben Vornamen trägt wie er. Und der nichts mit ihm zu tun haben will. „Ich möchte niemanden verletzen“, sagt Pierre Mailait, „ich muss vorsichtig vorgehen.“
Pierre Mailait wollte nie auffallen. Und nie jemanden bedrängen. Vermutlich hat er auch deswegen erst vor sieben Jahren von der Existenz seines damals längst verstorbenen deutschen Vaters erfahren. In den Jahrzehnten zuvor hatte er lediglich ein Gefühl – aber nie die Gewissheit –, dass die anderen mehr über ihn wussten als er selbst. Manchmal verstärkten konkrete Hinweise seinen Verdacht. So im Jahr 1965. Da bereitet er seine Hochzeit mit Aline vor, und der Priester stellt fest, dass jemand den Nachnamen des Bräutigams auf dessen Taufschein durchgekritzelt hat. „Frag deine Mutter“, sagt Aline, „du musst es herausfinden.“ Aber Pierre Mailait unternimmt nichts. Er ist 25, und er stellt keine Fragen. Er ist sicher, dass ihm niemand antworten wird.
Fünfzehn Jahre später ein neuer Hinweis: Seine Tante, die im Sterben liegt, klagt: „Ich bin die Patin von einem Boche.“ Pierre Mailaits Mutter und der Mann, den er heute „Stiefvater“ nennt, erfahren wieder nichts. „Die beiden waren eine Mauer“, begründet er. Stattdessen fragt der damals 40-Jährige seinen jüngeren Bruder: „Stimmt das?“ Der erwidert: „Ja.“ Dann senkt sich der Bleideckel erneut.
Zwanzig Jahre später wollen Pierre Mailaits eigene Söhne die Ungewissheit nicht länger ertragen. 2002 verlangen sie von ihrer Großmutter, dass sie ihnen sagt, wer ihr Großvater ist. „Andernfalls siehst du uns nie wieder“, drohen sie. Die alte Dame lebt im Seniorenheim. Ihr Ehemann ist tot. Ihre Gesundheit ist angeschlagen. „Er hieß Herbert“, sagt sie den Enkeln: „Er war ein Deutscher. Er war groß, blond und blauäugig. Ich habe ihn geliebt.“
Kurz zuvor ist Pierre Mailait 60 geworden. Er hat seine Karriere als technischer Zeichner beendet und ist in Rente gegangen. „Es war eine Initiative meiner Söhne“, sagt er, „ich selbst hätte meine Mutter nie gefragt.“ Ihm bleiben zwei Monate, bevor seine Mutter ganz in der Krankheit versinkt, an der sie sterben wird: Alzheimer. Was sie in ihren letzten klaren Momenten im Frühsommer 2002 widerwillig erzählt, gibt ihm einen Vater. Und lässt ihn auf einmal die lebenslangen Ängste verstehen. Er ist aus einer Beziehung hervorgegangen, von der seine Mutter nie wieder gesprochen hat. „Sie wollte das Geheimnis mit ins Grab nehmen“, glaubt er, „vielleicht haben unsere Gespräche sogar ihre Krankheit beschleunigt.“
Yvonne Mary, die Mutter, ist 20, als sie 1941 in Rouen den Obergefreiten Herbert Klemm aus Chemnitz kennenlernt. Sie arbeitet als Wäscherin in dem Schloss, das die Wehrmacht beschlagnahmt hat, er als Mechaniker bei der deutschen Marine in Rouen. Am 5. Dezember 1941 bringt die junge Frau in ihrem Elternhaus ihren ersten Sohn zur Welt. „Sie war ganz sicher nicht glücklich über die Schwangerschaft“, sagt der Sohn 67 Jahre später. Aber zu einer Engelmacherin ist sie nicht gegangen. Und auch eine „Niederkunft unter X“ hat sie nicht versucht. Das französische Vichy-Régime hatte diese anonyme Freigabe zur Adoption erst wenige Monate zuvor eingeführt: für die zahlreicher werdenden Französinnen, die schwanger von Wehrmachtsoldaten waren.
In der Familie Mary sind sie kommunistisch. Der Vater hat die Mitarbeit in der Operation Todt, beim Bau des Atlantikwalls, abgelehnt. Der Bruder der jungen Wäscherin ist wegen Widerstands nach Auschwitz deportiert und dort ermordet worden. Als die junge Frau schwanger wird, hält die Familie zu ihr. Dabei bleibt es auch, als Mary zweieinhalb Jahre später ein zweites Kind bekommt. Ebenfalls von einem „unbekannten Vater“. Ihr Ehemann allerdings, der in der deutschen Kriegsgefangenschaft von ihrer Untreue erfährt, reicht die Scheidung ein.
Im Herbst 1944, wenige Wochen nach der Befreiung, wird die junge Frau von drei Résistants abgeholt. Wie durch ein Wunder bleibt ihr das Schicksal erspart, geschoren und nackt durch den Ort getrieben zu werden. Sie kommt für drei Monate in Gefangenschaft. Im Januar 1945 verurteilt der Gerichtshof von Rouen sie zu fünf Jahren „nationaler Unwürdigkeit“. Er begründet das Urteil mit ihrem „Verbrechen“: Ivonne Mary habe „freiwillig die nationale Einheit der Nation (…) geschädigt, indem sie fortgesetzte Beziehungen mit Deutschen unterhielt, während ihr Mann Kriegsgefangener war“.
Der Sohn erinnert sich an den Großvater, der sich viel um ihn gekümmert hat. Dass derselbe Großvater seit der Verurteilung seiner Mutter sein Vormund war, hat Pierre Mailait erst als Rentner erfahren. Zum selben Zeitpunkt findet er auch die einzige materielle Spur, die möglicherweise von seinem Vater erhalten ist: ein kleines Schwarzweißfoto mit gerilltem Rand. Die Vorderseite zeigt ein Baby in einem Garten: den neugeborenen Pierre. Auf der Rückseite steht „mein kleiner Liebling“. Auf Deutsch. Geschrieben in der Sütterlinschrift, die in Frankreich niemand benutzte. „Er hat mich drei Monate gekannt“, sagt Pierre Mailait über den Vater. Kurz nach dem Foto muss der Obergefreite aus der Normandie an die Ostfront verlegt worden sein. Weil er „fraternisiert“ und ein Kind mit einer Französin bekommen hat.
Die Mutter sieht den Vater nie wieder. Als sie 1948 heiratet, übernimmt der neue Mann die Vaterschaft für ihre beiden Söhne. Anders als viele „Kriegskinder“ ist Pierre Mailait in seiner Kindheit nie „Boche“ oder „Bastard“ gerufen worden. Heute glaubt er, dass es daran lag, dass er ein guter Schüler war. Das wiederum erklärt er im Licht seines neuen Wissens damit, dass er Disziplin und Ordnung vom Vater geerbt habe: „Ich entspreche dem Klischee des Deutschen“.
Dass er nun auch die passenden Papiere zu diesen Charakterzügen bekommt, will Pierre Mailait „für die anderen“ nutzen. Er will sich für die vielen „Kriegskinder“ einsetzen, die es nie erfahren haben. Oder die es einfach nicht wissen wollen.