piwik no script img

Die komplizierten Unzertrennlichen

Wiederentdeckung einer Schriftstellerin: In ihrem neu übersetzten Roman „Die Berglöwin“ beschreibt Jean Stafford das Leben zweier Geschwister, die als Außenseiter aufwachsen

Nüchterne Schreibweise, ambivalente Beziehungen: Jean Stafford im Jahr 1945 Foto: Granger, NYC/Ullstein Bild

Von Fokke Joel

Die Geschwister Ralph und Molly sind unzertrennlich. Sie spielen zusammen, sie gehen zusammen zur Schule, und sie verteidigen sich gegenseitig gegenüber den Erwachsenen. Und die haben in Covina, in der Nähe von Los Angeles, wo Molly und Ralph in den 1930er Jahren aufwachsen, alle etwas an ihnen auszusetzen. Selbst die Mutter versteht ihre Kinder nicht. Der Vater war früh an einer Blutvergiftung gestorben. Die Mutter war deshalb mit ihren Kindern von der Farm der Schwiegereltern in Missouri wieder zurück in die Nähe ihrer Eltern nach Kalifornien gezogen.

Doch Ralph und Molly sind nicht nur unzertrennlich, sie sind auch allein. Jean Stafford beschreibt die beiden Kinder in ihrem 1947 erschienenen, jetzt neu übersetzten Roman „Die Berglöwin“ als Außenseiter. Molly steht zwar in dem Ruf, „interessant zu sein“, weil sie sich jeden Witz merkte, „den sie hörte, und was die Leute so sagten“, aber niemand konnte sie leiden, „weil sie so sarkastisch war“.

Ihre älteren Schwestern Leah und Rachel hatten viele Freunde und wurden „jedes Jahr zu zahllosen Pyjamapartys und Geburtstagsfeiern mit ,Einer ist immer der Esel‘-Spiel eingeladen“, während Molly und Ralph am Valentinstag „die Schachteln im Klassenzimmer des jeweils anderen mit Karten füllen [mussten], sonst hätten sie gar keine bekommen“.

Jean Stafford wählt für ihre Erzählerin den Blick von außen. Nie verliert sie die Distanz zu ihren Figuren, allerdings auch nicht ihre Sympathie. Ralph und Molly sind deshalb weder besonders sympathisch noch unsympathisch. Eine Schreibweise, die an Henry James erinnert. Stafford hat ihn ein Leben lang bewundert, wie Jürgen Dormagen im Nachwort schreibt. Zusammen mit seiner Frau Adelheid hat er die „Berglöwin“ in ein flüssiges Deutsch übersetzt. Wie Henry James verzichtet Stafford auf die Psychologisierung ihrer Figuren, beschreibt ihr Inneres nur spärlich.

Stattdessen muss sich der Leser die Psychologie der Geschichte aus den Äußerungen und Handlungen der Figuren erschließen und ist nur eine weitere Person in der Geschichte, die das Geschehen stumm beobachtet. Allerdings erhält er dadurch auch die Freiheit, eine eigene Deutung des Erzählten zu entwickeln. Der Wunsch nach der Bestätigung dieser Deutung macht den Roman dann für ihn spannend.

Jean Stafford: „Die Berg­löwin“. Aus dem Amerikanischen von Adelheid und Jürgen Dormagen. Dörlemann, Zürich 2020, 352 Seiten, 25 Euro

Auffällig an der „Berglöwin“ ist außerdem die Zweideutigkeit, die Ambivalenz, die sich durch den Roman zieht.

Während Ralph und Molly als Kleinkinder noch mehr oder weniger ungebrochen ihre Identität durch ihre Geschwisterliebe und die Abgrenzung von den Erwachsenen bilden, beginnt ihre Beziehung nach dem Tod des Großvaters aus Missouri, der bei einem Besuch in Covina stirbt, ambivalenter zu werden. Der Großvater war zu einer Art Vaterfigur für die beiden Geschwister geworden, auch wenn er sie nur ein Mal im Jahr besucht hatte.

Einer der Brüder des Vaters, Onkel Claude, der auf einer Farm in Colorado lebt, lädt Ralph und Molly bei der Beerdigung zu einem Besuch ein. Er ist ein einfacher Bauer, der sich in der gebildeten Familie der Mutter von Molly und Ralph unwohl gefühlt hatte. Aber Ralph erkennt in ihm auch den Mentor, der ihn in eine andere, von Männern geprägte Welt einführt.

Die beiden nähern sich im Verlauf der Geschichte an, aber auch hier bleibt die Beziehung aufgrund der unterschiedlichen Milieus, aus denen sie kommen, zweideutig. Gleichzeitig wird Ralphs Beziehung zu Molly immer schwieriger, insbesondere als beide älter werden.

Sie verbringen immer mehr Zeit auf der Farm in Colorado, am Ende sogar das ganze Jahr, weil ihre Mutter mit ihren älteren Schwestern eine Weltreise unternimmt. Während Molly ihrer Leidenschaft fürs Schreiben nachgeht, folgt Ralph seinem Onkel praktisch überall hin und lässt sich ganz auf das Landleben am Rand der Rocky Mountains ein.

Während es in Colorado ums Jagen geht, ist in Covino kulturelles Kapital von Vorteil

Die Nüchternheit, mit der Jean Stafford ihre Figuren beschreibt, lässt sich als Ausdruck der utilitaristischen Pioniergesellschaft verstehen, die die USA in den 1930er Jahren, in denen der Roman spielt, noch stärker geprägt hat als heute. Für Sentimentaltität ist in der „Berglöwin“ kein Platz. Molly und Ralph empfinden ihr Leben, dass sie zwischen Covina und der Farm ihres Onkels in Colorado aufteilen, als ein Leben zwischen „Männern und Händlern“. Während es in Colorado ums Jagen und um Rinder geht, ist in Covina kulturelles Kapital in Form von Bildung von Vorteil.

Die nüchterne Schreibweise Jean Staffords führt wie die Distanz der Erzählerin dazu, dass der Leser in seinem Denken und Fühlen über den Roman nicht in eine Richtung gedrängt wird. Es ist schwer, sich mit einer der Figuren aus „Die Berglöwin“ zu identifizieren und damit eine eindeutige Position einzunehmen.

Man muss den Roman vielleicht so lesen, wie Brechts ideeller Zuschauer seine Theaterstücke. Brecht beschreibt ihn als jemanden, der in einer gewissen Distanz zum Geschehen auf der Bühne im Zuschauerraum sitzt und mit Genuss die Handlung auf der Bühne verfolgt, sodass er nicht durch emotionale Überwältigung seiner Souveränität beraubt wird, ihn die Geschichte aber gleichzeitig gut unterhält und zu eigenem Denken inspiriert. So wie Jean Staffords „Die Berglöwin“.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen