berliner szenen: Fünf Jahre lang gewartet
Dass ich in meinem Leben noch mal lerne, Schlange zu stehen, hätte ich nicht erwartet. Heute musste ich auf dem Postamt ein Paket abholen. Als ich durch die neue Querverbindung von der Belziger- über den Posthof zur Hauptstraße kam, reichte die Schlange vor dem Postgebäude, ehemals das alte Rathaus von Schöneberg, zu meinem großen Erstaunen an Woolworth vorbei bis fast zum Kaiser-Wilhelm-Platz zurück. Wenn man immer zu Hause im Zimmer ist, hält man so was ja gar nicht für möglich.
Nun gut, die Sonne schien, und ich dachte mir, wenn ich hier jetzt ein Stunde stehe, werde ich ein bisschen braun. Man überschätzt das aber mit dem Warten, wenn die Leute alle weit auseinanderstehen. Es ging dann viel schneller, und nach einer Viertelstunde hatte ich schon mein Paket. Und dazu zwei FFP2-Masken! Denn während ich wartete, las ich im Schaufenster der kleinen Apotheke zwischen Woolie und Post, dass hier noch Atemschutzmasken vorrätig seien.
Auf dem Heimweg, wieder durch den neuen Durchgang, wollte ich mir dann doch mal einen Kaffee beim „Portier“ genehmigen.
Der „Portier“ ist ein kleines Café im Pförtnerhaus des Neubaus auf dem Postgelände. Er ist ultraschick und von Graft Architects – das sind die, die für Brad Pitt gebaut haben. Eigentlich handelt es sich beim „Portier“ um eine mit Klinkersteinen umgebaute Theke. Schon immer stehen die Leute mit ihrem Kaffee vor dem Thekenfenster und auf der Straße herum, während in den Raum maximal vier Leute reinpassen.
So sagte ich zum Barrista: „Ihr Café ist ja ideal für die jetzige Situation. Sie machen gerade so weiter wie bisher.“ Sagte er: „Ja, wir haben auch fünf Jahre lang darauf gewartet. Auf den Laden.“ Da meldete sich der Typ einen Meter hinter mir: „Ach ja? Ich dachte auf Corona“.
Brigitte Werneburg
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