Wenn 100 Seiten Gerichtsakten fehlen

Chemiekranke sollten Entschädigungen längst leichter einklagen können. Doch die Gegenseite wehrt sich mit Tricks

MÜNCHEN taz ■ Inge Kroth ist über das Sozialgericht Koblenz erbost. Die 76-Jährige hat mit ihrem Mann bis 1989 in einer Textilreinigung gearbeitet und dort ständig gefährliche Lösemittel eingeatmet. Jetzt hat sie eine Hirnfunktionsstörung, Enzephalopathie genannt. Sie kämpfte vor dem Sozialgericht Koblenz für eine Rente von der Berufsgenossenschaft. Die Ärzte attestierten ihr, dass sie durch die Chemie krank geworden ist. Doch das Gericht erkannte ihre Krankheit nicht als berufsbedingt an. Es schenkte den Gutachtern der Berufsgenossenschaft mehr Glauben.

Erst nachdem das Verfahren abgeschlossen war, fand Inge Kroth heraus, dass etwa 100 Seiten, die ihre Anwältin eingereicht hatte, nicht in das Urteil eingeflossen waren. Sie fehlten in der Gerichtsakte. Auf den Seiten hatte sie aber Widerspruch gegen ein vom Gericht bestelltes Gutachten eingelegt und die Berichte des Technischen Aufsichtsdienstes der Berufsgenossenschaften bemängelt.

Doch das Gericht hatte die Seiten nicht abgeheftet, sondern an die Beklagte, also die Berufsgenossenschaft, „versehentlich übersandt“. Dies geht aus einem Brief hervor, den der Präsident des Sozialgerichtes im vergangenen Jahr an Inge Kroth sandte – mit der Bitte um Entschuldigung. Inge Kroth beschwerte sich. Nun gibt es für die Rechtssache ein neues Aktenzeichen, diesmal beim Landessozialgericht in Mainz. Kroth ist kein Einzelfall. „Viele Betroffene berichten über negative Erfahrungen mit den Gerichten“, sagt Peter Röder von der Initiative kritischer Umweltgeschädigter (IKU).

Nur sehr selten werden berufsbedingte Erkrankungen anerkannt. Im Fall der Berufskrankheit durch Lösemittel, der BK 1317, bekommen nicht einmal 5 Prozent der Antragssteller eine Rente. Doch das könnte künftig besser werden. Anfang des Jahres ist ein wissenschaftlich nicht haltbares Merkblatt zur BK 1317 geändert worden. Das alte Merkblatt verneinte einen Zusammenhang mit Lösemitteln, wenn die Symptome der Krankheit über Jahre hinweg blieben oder schlimmer wurden. Doch gerade das spricht für eine Lösemittelvergiftung.

Jahrelang hatten sich Gutachter der Berufsgenossenschaften auf das falsche Merkblatt berufen. Erste Erfolge der Änderung stellen sich jetzt ein: Viele Betroffene können die Wiederaufnahme ihrer Verfahren beantragen, die Gerichte müssen das neue Merkblatt berücksichtigen.

Das nordrhein-westfälische Landessozialgericht in Essen hat kürzlich dafür gesorgt, dass ein Lösemittelgeschädigter doch eine Rente bekommt. Die IKU begrüßt die Entscheidung, sieht aber einen Haken. „Wieder wurde kein endgültiges Urteil gesprochen, auf das sich andere berufen könnten“, bedauert Peter Röder. Als das Gericht angekündigt hatte, dem Kläger Recht zu geben, erklärte sich die Berufsgenossenschaft plötzlich selbst zu einerZahlung bereit.

Inge Kroth hofft, dass die Merkblattänderung auch ihr helfen kann. Denn vom Gericht bestellte Gutachter hatten im Sinne des falschen Merkblatts auch in ihrem Fall behauptet, die Verschlimmerung der Symptome spreche gegen die Lösemittelvergiftung. Kroth hat nun bei der Berufsgenossenschaft eine Wiederaufnahme beantragt. Deren kurioser Einwand: Das neue Merkblatt sei für Inge Kroth nicht relevant, weil für die BK 1317 ein Rückwirkungsausschluss gelte, Kroths Symptome aber schon vor 1993 vorhanden gewesen seien. Die IKU hält das für rechtswidrig. Peter Röder: „Zum Ablehnen der Rente war das Merkblatt gültig, dann muss es auch für die Anerkennung gültig sein.“ BRITTA BARLAGE