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Katrin Seddig Fremd und befremdlichDie einen rufen die Polizei, die anderen empören sich über die Empörer

Foto: Lou Probsthayn

Katrin Seddig ist Schrift-stellerin in Hamburg mit einem besonderen Interesse am Fremden im Eigenen. Ihr jüngster Roman „Das Dorf“ ist bei Rowohlt Berlin erschienen.

Ich war ein wenig spazieren und habe mir den Hamburger Friedhof Diebsteich angesehen. Ich sehe mir gerne Friedhöfe an, ich spaziere herum und lese mir die Grabinschriften durch, denke mir Geschichten dazu aus und genieße die Friedhofsnatur. Manchmal setze ich mich auf eine Bank und denke über das Sterben nach, an meinen Vater, der vor wenigen Jahren starb und jetzt denke ich auch viel über die Angst nach, die uns derzeit befallen hat. Ich habe Friedhöfe nie als Parks angesehen, obwohl manche, wie der Ohlsdorfer Friedhofzum Beispiel, so einen Charakter haben, weil sie weitflächig sind, über viel Natur verfügen und den Menschen auch eine gute Möglichkeit zum Spazierengehen bieten.

Auf dem Friedhof Diebsteich habe ich ganz spezielle Erfahrungen machen müssen. Zum einen ist er durchaus etwas romantisch, denn er verfügt über alte Bäume und Hecken, ist teilweise etwas verwildert. Man kann ihn nicht einfach überblicken, ich bin sogar ein wenig herum­geirrt. Dann liegt er zwischen einer Bahnlinie, der A7 und der Stresemannstraße. Es ist also laut, ein Grundrauschen, wie sie durchgängiger Verkehr verursacht.

Und zuletzt ist der Friedhof Diebsteich offensichtlich ein Gassi-Friedhof. Auf der kleinen Runde, die ich drehte, begegneten mir nicht weniger als sechs Hundehalter, zwei Hunde stöberten unangeleint zwischen den Gräbern herum, ließen ihre Duftmarke an den Grabsteinen zurück, einer davon ein Schäferhund, dessen riesiges Herrchen seine Zigarette auf dem Friedhofsweg austrat. Sein Hund hätte auch irgendwo hinscheißen können, er hätte es nicht bemerkt, der Hund trottete in großem Abstand auf eigenen Wegen hinter ihm her.

‚Ist es denn erlaubt, seinen Hund auf dem Friedhof auszuführen?‘, fragte ich mich. Und dann fragte ich mich, warum ich mich immer frage, was erlaubt ist. ‚Geht es denn dich was an, Katrin?‘, fragte ich mich also gleich danach. Als ich den Friedhof verließ, fiel mein Blick auf das Schild: Das Mitführen von Hunden ist nicht gestattet. ‚Aha‘, dachte ich, ‚Sieh mal einer an‘, dachte ich. Und dann ärgerte ich mich über die Leute und über mich, weil ich mich überhaupt darüber ärgerte. ‚Mein Gott, wir haben doch nun wirklich ganz andere Probleme‘, dachte ich. Aber ich dachte auch daran, wie es mir gefallen würde, wenn mein eigener Vater in einem dieser Gräber gelegen hätte, die ein Schäferhund bepinkelte, und warum die Leute nicht einfach das unterlassen, was ihnen nicht erlaubt ist.

Das ist nun gerade wirklich ein großes Thema. Die einen wollen gewisse Freiheiten genießen, ihre Familie treffen, an der Alster mit den Kumpels ein Bier trinken, mit den Kindern auf den Spielplatz gehen, über Ostern in das Ferienhaus fahren. Das sind ja nun wirklich keine große Sachen. Meine Tochter hat letzte Woche mit ihrer einzigen und besten Freundin auf einer Wiese Fußball gespielt. Anwohner vom Balkon riefen sofort die Polizei. Die Polizisten gaben sich unentschlossen, sie hätten den Abstand wohl eingehalten und wären ja auch nur zu zweit auf der Wiese gewesen, aber es sei derzeit nicht erlaubt, Fußball zu spielen.

Wir müssen uns immer fragen, was mehr zählt: meine Freiheit oder deine Gesundheit?

„Siehst du“, sagte ich meiner Tochter. „Ich habe es dir ja gesagt.“ „Aber wo steht das?“, sagte meine Tochter. „Bleib einfach zu Hause“, sagte ich. Ich möchte anmerken, dass wir zu dritt auf 58 qm wohnen, ohne Balkon. Ich beobachte derzeit viel Streit darüber, was man darf und was nicht. Die einen empören sich und rufen von ihren Balkonen aus die Polizei an, die anderen empören sich über die Empörer und nennen sie Blockwarte.

Meine Freiheit, deine Gesundheit, immer neue Vorschriften, gesellschaftliche Notwendigkeiten, das prallt momentan heftig aufeinander, und wir müssen uns immer wieder fragen, was mehr zählt: meine Freiheit oder deine Gesundheit, unsere Bedürfnisse oder gar unser Leben? Ist es sinnvoll, Regeln zu hinterfragen? Ist es sinnvoll, nur sinnvolle Regeln einzuhalten, und ist es sinnvoll, die Entscheidung über die Sinnhaftigkeit jedem für sich zu überlassen und wohin führt das dann?

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