: Körper an der Front
TANZ Die Compagnie Chatha aus Tunesien tobt unter dem Eindruck der Jasminrevolution im Kieselhaufen, die Belgierin Lisbeth Gruwez verwandelt ihre Arme in Fallbeile: zwei neue Choreografien bei „Tanz im August“
VON ANNETT JAENSCH
Malmendes Knirschen. Dieses Geräusch ist mit Sicherheit das, was akustisch vom Tanzabend „Kharbga – Power Games“ haften bleibt: Kein Wunder, denn die sechs Performer der Compagnie Chatha navigieren durch ein Bühnenbild aus Stein- und Kieselhaufen. Es ist eine raue, unwirtliche Szenerie, und kaum haben die Tänzerbeine intensiven Kontakt zum Untergrund aufgenommen, steigt auch schon effektvoll eine Staubwolke auf. Hier ist Kampfzone, flüstert das Kopfkino.
Für ihre neueste Produktion haben sich die aus Tunesien stammenden Choreografen Aïcha M’Barek und Hafiz Dhaou vom gleichnamigen nordafrikanischen Strategiespiel inspirieren lassen. Kharbga wird in seiner traditionellen Form mit Kieselsteinen auf dem Boden gespielt und erinnert an Schach. In der getanzten Version drehen sich die Akteure, anfangs noch langsam, auf der Suche nach ihrem Rhythmus. Niemand scheint Notiz vom anderen zu nehmen, doch die kreiselnden Körper belauern sich gegenseitig. Und stetig steigt die Erregungskurve, denn immer schneller wirbeln die drei Tänzer und zwei Tänzerinnen um ihre eigene Achse. Einer wirbelt nicht: Melchior Derouet. Er ist blind, seine starke Präsenz bricht und verbindet die Bahnen der Tänzer.
Ein brennender Körper
Die obsessiv ausgeführten Drehungen definiert das Choreografenduo als Schlüsselmotiv und physische Herausforderung zugleich. Bis wohin kann man gehen, wie kann man sich auf instabilem Grund behaupten? Das konkret Körperliche mit Metaphorik verschmelzen, so will die Compagnie Chatha arbeiten. Als gegen Ende das Lied „Maktoub ya maktoub“ erklingt, scheint sich die verbissene Atmosphäre vom Anfang in eine gelöstere umzuwandeln. Maktoub, das Schicksal, in die eigene Hand nehmen wollen, das sei auch das Grundgefühl in ihrem Heimatland Tunesien, seitdem der Arabische Frühling angebrochen ist, erzählt M’Barek. Für sie schockierend und bezeichnend zugleich: Es war ein körperlicher Akt, die Selbstverbrennung des Gemüsehändlers Mohamed Bouazizi nämlich, der Ende 2010 die Jasminrevolution ausgelöst hat.
Als rein politisches Stück wollen Chatha, die künstlerisch mit einem Bein in Frankreich stehen, ihre Produktion dennoch nicht verstanden wissen. „Wir gehen die politische Dimension nicht frontal an. Aber allein die Tatsache, so ein Stück auf die Bühne zu stellen, ist schon eine starke Aussage.“ Stellenweise wirkt „Kharbga – Power Games“ unfertig, wie selbst noch im Aufbruch, aber man nimmt den Darstellern ab, dass sie sich und ihre Körper in ein Abenteuer stürzen, das über die Bühne hinausgeht.
Auf ein körperliches Abenteuer begibt sich auch die Belgierin Lisbeth Gruwez mit „It’s going to get worse and worse and worse, my friend“. Im Festivalprogramm ist das Stück unter dem Themenstrang Tanz und Sprache verortet. Sehr schnell wird klar: Gruwez’ Tanzpartner ist die Sprache selbst, ein ziemlich despotischer sogar. Weißes Hemd, graue Hose, das Haar streng gescheitelt, so gerüstet steht Gruwez in einem schmalen Lichtviereck bereit. Salbungsvoll wandern ihre Blicke ins Publikum. Diese Geste kommt nicht von ungefähr, in ihrer Performance konfrontiert sie sich mit Redefragmenten des ultrakonservativen TV-Predigers Jimmy Swaggart. Gruwez übersetzt die agitatorische Rhetorik in Bewegungsvokabular. Wenn ihr Arm die Luft im Sekundentakt zerhackt, rasseln die Argumente wie Fallbeile herunter. Hände streichen etwas glatt, die Silhouette strafft sich zum Ausrufezeichen, die Matadorin lässt sich in die Tiefe des Raums zurücktaumeln, um dann wieder nach vorn zu schießen. Einlullend, frenetisch mahnend, einpeitschend: Der ganze Beschwörungskatalog eines fanatischen Predigers scheint durch Gruwez’ Körper zu rollen.
Während anfangs nur Wortfetzen zu hören waren, schälen sich langsam aus den Geräuschclustern ganze Sätze heraus. „We must find an answer.“ Oder: „We have not made any advancement at all.“ Schriller und herrischer wird der Ton. Die perfekte Körperkontrolle gerät zur Entgleisung. Mechanisch pumpt der Oberkörper. Wie ein Marathonläufer quält sie sich ins Ziel. Demagogie ist Schwerstarbeit. Am Ende hüpft sie in die Höhe, grotesk beseelt. Gruwez tanzte bei Ultima Vez, Arco Renz und Jan Fabre, bevor sie sich 2007 mit dem Musiker und Komponisten Maarten Van Cauwenberghe zusammentat. Sie produzieren unter dem Beinamen Voetvolk VZW – Fußvolk. „Throw your body into the frontline“ steht als Motto auf ihrer Website. Ihren Körper an die Front geworfen hat Gruwez in der Tat. Am Ende der 55 Minuten hängen Begeisterung und Beklemmung zugleich im Raum.