: Die Schöne von nebenan
ZEITGESCHICHTE Der italienische Fotograf Federico Patellani zelebriert, zwischen Automodellen, in Wolfsburg Ästhetik und Lebensfreude der Aufbaujahre
Als das „besucherstärkste Automobilmuseum der Welt“ bezeichnet die Autostadt in Wolfsburg ihr „Zeit-Haus“. Es präsentiert, in wenig bestechender Architektur, wichtige Etappen aus 125 Jahren Automobilgeschichte. So stehen beispielsweise ein violetter Bugatti 57SC für formale Relikte des Jugendstils im Karosseriebau der 1930er Jahre und ein giftgrüner Ford Capri für den Sportwagentrend um 1970, der auch Normalverbraucher erfasste.
„Die Allerschönste bist du“ ist eine aktuelle Fotoausstellung in dem Haus überschrieben. Dabei geht es trotz des vielsagenden Titels nicht um die attraktivste aller Karossen. Der italienische Titel „La più bella sei tu“ erschließt das Thema dann auch etwas sinnenfroher. Der Fotograf Federico Patellani, dem die Ausstellung nämlich gilt, hat die Miss-Italia-Wettbewerbe in den unmittelbaren Nachkriegsjahren dokumentiert. Bereits 1946 fand die erste Schönheitskonkurrenz statt, 1947 fotografierte Patellani als offizieller Berichterstatter des Magazins Tempo, später auch aus eigenem Interesse.
Federico Patellani wurde 1911 in Monza geboren, studierte Jura und fand 1935, im Einsatz als Soldat in Ost-Afrika, zur Fotografie. Seine Reportagen mit eigenen Fotos setzten neue Maßstäbe im Journalismus des Nachkriegsitaliens: Seine „fototesti“ – „Fototexte“ – bildeten in Wort und Bild verfasste, umfangreiche Geschichten, die Fotografie diente also nicht der Illustration eines Textes. Wohl deshalb ging Patellani sehr bedachtsam mit seinen Fotos um: Nach ihrer ersten Veröffentlichung verschwanden sie im Archiv, das bei seinem Tod 1977 rund 700.000 umfasste.
Bereits 1979 brachte ein italienischer Verlag den Fotoband „La più bella sei tu“ heraus, der aber kaum beachtet wurde. Es bedurfte wohl einer größeren zeitlichen Distanz, um die kulturgeschichtliche Relevanz der Bilder würdigen zu können.
Erst im Jahr 2002 stieß die Neuauflage des Buches und eine gleichnamige Ausstellung auf Resonanz. In Wolfsburg sind nun 40 Motive des Fotografen in einer eigens kuratierten Ausstellung versammelt.
Diese Fotos und ihre umfassende Rezeption in den Journalen Italiens sind kleine Sittengemälde der Nachkriegszeit. Denn die sommerlichen Schönheitswettbewerbe dienten als sinnliche Gegenbilder zu den mühsamen Aufbaujahren. Sie sind so gar nicht keusch katholisch: Vielmehr kamen bereits 1947 einige Teilnehmerinnen zum obligaten Posieren statt in Badeanzug im Bikini daher, der – 1946 erstmals vorgestellt – bis weit in die 1950er Jahre hinein weltweit für Empörung sorgte. Nebenbei wurde also auch Modegeschichte mitgeschrieben: Alle Outfits sind, noch etwas bieder zwar, die Avantgarde italienischer Couture.
Neben offiziellen Momenten und Ritualen wie den Schauläufen und der akribischen Vermessung der weiblichen Konturen hielt Patellani auch Szenen am Rande der Wettbewerbe fest: Anproben, freundschaftliche Pausen, die mitunter flegelhaften männlichen Jurymitglieder.
Ganz unbefangen traten die Teilnehmerinnen auf, fast wie zum Schulausflug, manche hatten die Eltern dabei, getreu dem Motto des Wettbewerbs, dass „die schönsten Mädchen von nebenan“ gesucht würden.
Zwar wurden auch echte Karrieren begründet: 1947 wurde Gina Lollobrigida entdeckt, 1950 Sophia Loren. Die Schwarzweiß-Fotos jedoch finden einen liebevollen Ausdruck für die naive Natürlichkeit dieser Konkurrenzen – und für die aufbrechende Lebensfreude nach dem gerade überlebten Zweiten Weltkrieg. Vor allem aber schwelgen sie in einem Glauben an die Schönheit, der weit entfernt ist von der berechnenden Härte gegenwärtiger Castingshows.
BETTINA MARIA BROSOWSKY
bis 2. 9., Zeit-Haus, Wolfsburg