: Spielen statt Tabletten schlucken
PRÄVENTION Immer mehr Grundschulkinder leiden unter Schmerzen. Ein Konzept aus Schleswig-Holstein soll vorbeugen: Statt in die Pillendose zu greifen, lernen die Kinder, auf ihre Bedürfnisse zu achten
Andauernde Bauchschmerzen, ein Stechen im Kopf, ein Ziehen im Rücken. Das sind längst keine reinen Altersbeschwerden mehr: 30 Prozent der Kinder zwischen drei und zehn Jahren leiden laut einer Studie des Robert-Koch-Instituts unter wiederkehrenden Schmerzen. Um so älter die Kleinen werden, desto schlimmer wird es: Mehr als die Hälfte der Jugendlichen im Alter von elf bis siebzehn Jahren klagen über chronische Schmerzen.
„Das hat eindeutig zugenommen“, sagt Volker Brüchmann, seit 23 Jahren Leiter der Grundschule am Bahnhof in Bad Bramstedt bei Neumünster. Als auf einer Schulleiterkonferenz vor drei Jahren das Schmerzpräventionsprogramm „fit und stark plus“ vorgestellt wurde, war er sofort begeistert.
Das Programm für Grundschüler in Schleswig-Holstein wird von der Lübecker Possehl-Stiftung und der AOK Nordwest finanziert. Der Grund: Chronische Schmerzen sind teuer. Sie haben ihren Ursprung im Kindesalter und sind bei Erwachsenen häufigste Grund für Krankschreibungen und Frühverrentungen. Ganz abgesehen von Arztbesuchen und dem Konsum von Schmerzmitteln. Bereits im Alter von drei bis zehn Jahren nehmen 36,7 Prozent der Kinder bei Schmerzen Medikamente.
An Volker Brüchmanns Grundschule in Bad Bramstedt sollen die Kinder erst gar keine Schmerzen entwickeln. In jeder Klasse tagt wöchentlich die Wohlikonferenz. Jedes Kind sagt, wie es sich fühlt und warum das so ist. Sich das eigene Befinden bewusst zu machen, ist ein wesentlicher Bestandteil von „fit und stark plus“. Zudem gibt es Entspannungsübungen. Dann schließen alle die Augen, sind mucksmäuschenstill und lauschen ruhiger Musik. Kommunikation, Stressbewältigung, Bewegungseinheiten und gesundes Essen – so soll Schmerzen vorgebeugt werden.
Schulleiter Brüchmann ist überzeugt von dem Programm: „Die Kinder mögen die Wohlikonferenzen sehr gern. Und wenn ein Kind glücklich ist, hat es auch seltener Schmerzen.“ Ein Großteil der Beschwerden der Kinder sei auf psychische Ursachen zurückzuführen.
Auch Boris Zernikow vom Deutschen Kinderschmerzzentrum teilt den Eindruck, dass chronische Schmerzen bei Kindern zunehmen. Wissenschaftliche Belege dafür gibt es aber noch nicht. „Stressfaktoren wie Turboabitur, zerrüttete Familien, Gewalt in der Schule, Kinderarmut oder Umweltverschmutzung nehmen zu“, sagt Zernikow. „Auch schlechte Ernährung, viele Computerspiele und Allergien sind eine wachsende Belastung.“ Heilende und schützende Faktoren wie ein funktionierender Familienverbund oder körperliche Aktivität nähmen dagegen ab. Zernikows Erklärung ist einleuchtend: „Simpel gesagt werden die Kinder krank, wenn die Stressfaktoren stärker sind als die Widerstandsfaktoren.“
Stressfaktoren zu reduzieren, das scheint durch das Programm „fit und stark plus“ zu gelingen. An der Universität Lübeck wurden die Fragebögen 386 Grundschüler, die bisher teilgenommen haben, ausgewertet. Das Ergebnis macht Mut: Im Vergleich zu einer Kontrollgruppe steigerte sich das Wohlbefinden der Kinder, Schmerzmittelkonsum und Arztbesuche nahmen ab. CHRISTINE BÖDICKER