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Archiv-Artikel

Schlecker ist kein Einzelfall

Frau Schlecker ist keine Schlecker-Frau: Während die Gattin von Anton Schlecker angesichts der drohenden Pleite vom einstigen Drogerie-Giganten mit monatlich 60.000 Euro bedacht worden sein soll (die Staatsanwaltschaft ermittelt), stehen Zehntausende Verkäuferinnen auf der Straße. Ein Blick zurück im Zorn – und nach vorn

von Paul Schobel

Gestatten Sie, dass ich mich erst mal ein wenig „fremdschäme“. Im schwäbischen „Musterländle“, aus dem ich komme, in dem ich arbeite und lebe, pflegt man mit „Arbeit“ anders umzugehen, als es der oberschwäbische Metzgermeister Anton Schlecker demonstrierte. Unternehmer schätzen ihre Schaffer. Ihnen und ihrer hochproduktiven Arbeit verdanken sie Wettbewerbsfähigkeit und persönlichen Wohlstand. Das darf dann auch mal was kosten, zum Beispiel eine solide Aus- und Weiterbildung und vor allem eine vergleichsweise gute Bezahlung. Für die Heiligsprechung einer ganzen Gilde reicht's allerdings nicht: Auch hierzulande gibt es Ausreißer, Tarifflüchtlinge, Kapitalistenknechte, die ordentlich dazugelernt haben und sich schamlos aus der staatlich bereitgestellten Wühlkiste bedienen: prekäre Arbeit mit all ihren Schnäppchen wie Mini-Jobs, Leiharbeit, befristete Beschäftigung und Werkverträge als die absoluten Renner. Dass aber ein solch riesiges Handelsimperium wie Schlecker die „Arbeit“ dermaßen bedrückt und gedemütigt hat, erschüttert uns als Betriebsseelsorger nicht erst, seitdem dieser Laden krachend in sich zusammenfällt. Wir sind uns sicher: Einer der Gründe für den Zusammenbruch, wenn auch nicht der einzige, ist die jahrzehntelange Missachtung und Misshandlung der menschlichen Arbeit.

Wer ehedem bei Schlecker angeheuert hat, geriet unversehens unter Generalverdacht, sich mit langen Fingern betätigen zu wollen. Dementsprechend drastisch war die permanente Überwachung. Da lauerten schon mal Spitzel hinter den Regalen, Testkäufer überführten in schöner Regelmäßigkeit die Kassiererinnen der Nachlässigkeit, dann hagelte es Abmahnungen und Kündigungen. Über diesen Läden hing ständig eine Dunstglocke der Angst. Viele Jahre lang gab es keine Telefone in diesen „Drogerie-Märkten“. Später waren die Apparate im Notfall nur über verschlüsselte Codes nach draußen zu schalten. Es gab Tote und Verletzte, denn in Ganovenkreisen wurden diese „Sicherheitsstandards“ dankend angenommen. Schlecker bot Gangstern leichte Beute.

Dies alles sickerte im Lauf der Jahre langsam nach draußen. Auch war nicht mehr zu verheimlichen, dass die Läden personell unterbesetzt und die Verkäuferinnen unterbezahlt waren. Tarifverträge? Ein Absud aus Teufels Küche! Betriebsräte und Gewerkschaften? Die operieren auf der Achse des Bösen. Gewerkschaftliche Betätigung war den Beschäftigten lange Zeit strikt untersagt. Mehr als einmal so geschehen: Wer im Gewerkschaftshaus gesichtet wurde, bekam die fristlose Kündigung! Eine wirkliche Großtat, die in die Sozialgeschichte eingehen sollte, dass es mutigen Schlecker-Frauen zusammen mit der Gewerkschaft nach und nach gelang, in vielen, bei weitem nicht in allen Sektoren dieses Königreichs Betriebsräte zu wählen, sie unternehmensweit zu organisieren und miteinander zu vernetzen. Nur so konnten sie standhalten und langsam die Arbeitsbedingungen verbessern. Auf dem Klageweg wurde Anton Schlecker dann gezwungen, tarifliche Bezahlung einzuführen. Sie kam allerdings nur dort zum Tragen, wo Betriebsräte darum kämpften. Das alles aber kam viel zu spät. Bei großen Teilen der Kundschaft hatten sich die skandalösen Arbeitsbedingungen herumgesprochen. Schon in der Agonie, versuchte das Unternehmen nochmals einen Befreiungsschlag gegen die Beschäftigten: Teile der Stammbelegschaft sollten in eine eigene Verleihfirma ausgelagert und danach als Leiharbeitskräfte zum halben Preis am selben Arbeitsplatz weiterbeschäftigt werden. Diese Unverfrorenheit führte dazu, dass im Deutschen Bundestag zum ersten Mal der Name Schlecker zu hören war. Aber das war's auch schon.

Wer die Arbeit bedrückt, wird vom Markt abgestraft

Wenn es ein Desaster wie den Niedergang dieses Drogerie-Imperiums kein weiteres Mal geben soll, müsste eigentlich das „Betriebssystem“ der kapitalistischen Wirtschaftsweise ausgetauscht oder zumindest „upgedatet“ werden. Einer der steilsten Leitsätze der katholischen Soziallehre müsste die Richtung bestimmen: „Arbeit hat Vorrang gegenüber dem Kapital.“

Eigentlich müssten, ausgelöst durch den Fall Schlecker, in den Zentralen der Arbeiter alle Alarmsirenen schrillen. Denn einmal mehr ist bewiesen: Wer die Arbeit bedrückt, demütigt, missbraucht, wird vom Markt abgestraft. Sage keiner, Schlecker sei ein Einzelfall. Fast alle Handelshäuser haben dieselben oder ähnliche Schikanen in ihrem Sortiment. Wird man denen auf die Finger klopfen? Wird endlich umgesetzt, was man in Sonntagsreden gerne behauptet, dass nur „gute“ Arbeit gewinnbringend ist und es sich lohnt, in sie zu investieren? Auf diesen Kurs müssten die Arbeitgeberverbände ihre Konsorten einschwören und jenen die Harke zeigen, die heute immer noch in ähnlicher oder gar noch schlimmerer Weise als bei Schlecker ihre Beschäftigten drangsalieren.

Ein Konzern, geführt wie eine Würstchenbude

Ein solch katastrophaler Firmenzusammenbruch dürfte auch eine Bundesregierung nicht kaltlassen. Wo bleibt der Krisenstab? Man bräuchte längst ein wirksames Frühwarnsystem, um Arbeit vor Missbrauch zu schützen. In erster Linie um der betroffenen Menschen und ihrer Würde willen. Wenn dies zu viel verlangt ist, dann halt in drei Teufels Namen aus ökonomischem Kalkül heraus: Moderne Sklavenhäuser bleiben auf lange Sicht am Markt ohne Chancen, sie gefährden den Standort Deutschland. Doch statt einen „Rettungsschirm“ für menschenwürdige Arbeit zu entwickeln, lässt man der Prekarisierung der Arbeitsverhältnisse weiterhin freien Lauf oder treibt sie gar noch voran. Sie gehört in all ihren Abarten quotiert und muss letztendlich ganz zurückgebaut werden. Sie führte zu einem gigantischen Wertezerfall der Erwerbsarbeit. Wann, wenn nicht jetzt wird endlich ein gesetzlicher Mindestlohn das desolate Lohngefüge in unserem Land nach unten abdichten? Wir haben Arbeit zweiter Klasse nicht nötig.

Der Fall Schlecker lässt aber auch erkennen, dass Teile des Unternehmensrechts in die Mottenkiste gehören. Ein Konzern in dieser Größenordnung kann nicht wie eine Würstchenbude geführt werden, auch wenn der Inhaber Metzgermeister ist. Die Rechtsform des „eingetragenen Kaufmanns“ (e.K.) ist wirksam zu begrenzen. Ein Unternehmen dieser Größenordnung muss in eine andere Rechtsform übergeführt werden. Das Schicksal Zehntausender Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer an das unternehmerische Geschick eines einzigen Menschen zu binden, der nirgendwo Rechenschaft schuldig ist, grenzt an Wahnsinn. Umso mehr, als diese Rechtsform es erlaubt, das haftende Kapital in Sicherheit zu bringen und es seiner Sozialpflichtigkeit zu entziehen.

Nicht zuletzt müssten auch die betriebliche und die Unternehmens-Mitbestimmung ausgebaut und fest verankert werden. Viel zu spät und im Kampf gegen ständige Widerwärtigkeiten seitens der Unternehmensleitung kam es bei Schlecker zu Betriebsratswahlen. Betriebsräte bilden bekanntermaßen einen Schutzwall um die arbeitenden Menschen, sorgen im Rahmen sehr bescheidener Möglichkeiten für gerechte Bezahlung und menschenwürdige Arbeitsbedingungen. Erwiesenermaßen sind starke und gewerkschaftlich organisierte Betriebsräte und vor allem ihre Wirtschaftsausschüsse in der Lage, rechtzeitig wirtschaftliche Verwerfungen zu erkennen, um entsprechende Maßnahmen einzuleiten. Im Falle Schlecker war die Belegschaft jahrzehntelang der Willkür des Arbeitgebers ausgeliefert. Als endlich eine gesetzliche Arbeitnehmervertretung zustande kam, war es zu spät. Solange die Einleitung einer Betriebsratswahl ausschließlich an die Initiative einer Belegschaft gebunden ist, wird sich daran nichts ändern. Mithilfe „psychologischer Kriegsführung“ werden gegenwärtig in dieser Republik tausendfach Betriebsratswahlen ver- oder behindert. Daher muss die Wahl eines Betriebsrats endlich verpflichtend geregelt werden, sonst bleibt Arbeit schutz- und rechtlos.

Inzwischen ist die Schlecker-Kette beinahe abgewickelt. Kein Ende aber, was die Demütigung der Beschäftigten betrifft: die FDP boykottierte eine Transfer- und Auffanggesellschaft. Damit stürzten die 26.000 ehemaligen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter von einem Tag auf den andern ungefedert in die Arbeitslosigkeit. Transfergesellschaften sind keine Wunderwaffen gegen die brutalen psychischen und materiellen Folgen der Arbeitslosigkeit, aber sie können deren Auswirkungen wenigstens dämpfen: Die Beschäftigten bleiben noch eine Zeit lang an Bord, sie können ihr kollegiales Miteinander bewahren und pflegen, und ihre Entgelte liegen oberhalb der Lohnersatzleistungen. Die Arbeit, die sie in diesen Gesellschaften verrichten müssen, ist traurig genug, nämlich ab- und aufzuräumen und dann das Licht auszumachen. Parallel dazu aber wird versucht, die Entlassenen beruflich weiterzuqualifizieren und sie vor allem in neue Arbeit zu vermitteln.

Den „Faktor Arbeit“ marktkonform machen

Dies alles schien den Gralshütern von „Marktwirtschaft pur“ obsolet. Der Markt, der universale Tausendsassa, regelt alles von sich aus. Nun hat er den Fleiß, das Können, die Kreativität Tausender arbeitswilliger und arbeitsfähiger Menschen auf null heruntergeregelt. Dabei wäre es gerade marktkonform, den „Faktor Arbeit“, um einmal dieses schamlose Wort zu gebrauchen, den Erfordernissen des Marktes anzupassen, ihn also erneut „marktfähig“ zu machen. Diese schlichte Wahrheit begreift jedes Kind, die Marktideologen aber scheinen damit intellektuell überfordert. Von der sozialen und ethischen Verantwortung im Blick auf die Betroffenen ganz zu schweigen. Die sind nun um die letzte Hoffnung betrogen. Um wenigstens in Härtefällen ein wenig helfen und trösten zu können, haben Ver.di und kirchliche Initiativen in diesen Tagen ein Solidaritäts-Konto eröffnet.

Der Fall Schlecker sollte auch alle Beschäftigten im Einzelhandel (und darüber hinaus!) wachrütteln. Sie müssen sich regen! Die schon fast legendären Schlecker-Frauen haben bewiesen, dass man mit Mut und mit der Kraft der Solidarität starre Strukturen aufbrechen und sich Mitsprache und Mitgestaltung erkämpfen kann. Dazu bedarf es allerdings des Schutzes einer starken Organisation.

Bleibt zum Schluss noch der Appell an uns alle als Konsumentinnen und Konsumenten. Fast unbewusst hat sich kapitalistisches Denken in unsere Herzen und Hirne eingefressen. „Billig ist gut …“ – ein Aberwitz, den heute viele schon verinnerlicht haben. „Geiz ist geil …“ – ein eigentlich perverses Lustempfinden, als Parole jedoch gut genug, um für Billigheimer Stimmung zu machen.

Dass wir uns nicht missverstehen: Das Preis-Leistungs-Verhältnis ist zweifelsohne ein wesentliches Kriterium für eine Kaufentscheidung. Es darf aber niemals das einzige sein, sonst produzieren wir Unrecht. Wir müssen bewusster wahrnehmen, woher die Ware stammt, unter welchen ökologischen und sozialen Bedingungen sie erstellt worden ist und vor allem, wie sie hierzulande vermarktet wird. Die notorischen Schnäppchenjäger schießen unbedacht gute Arbeit waidwund. Wer über ausreichend Einkommen verfügt, muss sein Konsumverhalten ändern und beim Einkaufsbummel auch ethische Grundsätze beachten.

Paul Schobel (73) arbeitete 38 Jahre lang in der Betriebsseelsorge der Diözese Rottenburg, von 1991 bis 2008 war er deren Leiter. Bei den katholischen Hierarchen war er nie beliebt, bei den Malochern schon. Er stand auch schon undercover an den Werkbänken. Schobel unterstützt mit seiner Stiftung die Schlecker-Frauen.