: „Europa hat die Gefahr nicht begriffen“
IRAN Der Nahostexperte Michael Lüders hat ein erschreckendes Déjà-vu: Der Westen wiederhole beim Iran alle Fehler, die er im Irak bereits gemacht hat
■ Der Nahostexperte publizierte 2012 „Iran: Der falsche Krieg. Wie der Westen seine Zukunft verspielt“. 2011 erschien von dem ehemaligen Zeit-Korrespondenten zur Arabellion „Tage des Zorns“ (C. H. Beck).
INTERVIEW INES KAPPERT
taz: Herr Lüders, nach Ihrer Meinung gleicht die aktuelle Dämonisierung des Iran der des Irak, „bis hin zu einzelnen Formulierungen“.
Michael Lüders: Wir haben im Irak erlebt, wie eine Behörde aus Wien über Jahre hinweg nach Massenvernichtungswaffen gesucht, aber keine gefunden hat. Trotzdem wurde ein Krieg begonnen – auf Grundlage eines nie erhärteten Verdachts. Das Vertrackte ist: Die Ergebnisse der Internationalen Atomaufsichtsbehörde (IAEA) können sehr unterschiedlich interpretiert werden. Für den Iran gilt: Natürlich gewährt er keine Einsicht in seine Militärgeheimnisse, die dann in Wien international veröffentlicht, also auch dem israelischen und amerikanischen Geheimdienst zugänglich würden.
Es kann also sein, dass der Iran über atomare Waffen verfügt?
Im Prinzip ja. Bislang sagen der Chef der IAEA, die CIA und der israelische Geheimdienst aber übereinstimmend, dass sie keine belastbaren Hinweise darauf haben, dass der Iran eine Atombombe baut. Das sollte man ernst nehmen.
Das ist noch keine Dämonisierung.
Natürlich nicht. Die findet auf der politischen Ebene statt. Es geht ja nur vordergründig darum, ob der Iran die Bombe baut oder nicht. Die eigentliche Frage ist: Wir halten wir es im Westen mit dem Iran, dem neben Syrien letzten Staat im Nahen und Mittleren Osten, der keine prowestliche Politik betreibt?
„Keine prowestliche Politik“ – verwechseln Sie hier nicht Auslöser und Reaktion? Wenn Iran Israel bedroht, sollte der Westen doch reagieren.
Jetzt müssen wir „Bedrohung“ definieren. Dem Iran wird ja zweierlei vorgeworfen. Erstens betreibe er ein Nuklearprogramm in der Absicht, eine Atombombe herzustellen. Dafür gibt es keine Beweise. Zweitens soll er Organisationen wie die Hamas und die Hisbollah unterstützen, die im Westen als Terrororganisationen gelten.
Dafür gibt es Beweise.
Ja, aber wenn man wollte, dann könnte man hier sicher einen politischen Kompromiss finden. Man hat sich aber nie bemüht, mit dem Iran auf Augenhöhe zu verhandeln, sondern immer nur versucht, Druck auf ihn auszuüben, ihn zunehmend zu isolieren.
Sie sprechen sich strikt gegen die gerade erst wieder verschärften Wirtschaftssanktionen aus.
Natürlich wird das Regime getroffen durch den Rückgang der Ölexporte. Aber die Mittelschicht, also der gesellschaftliche Träger des sozialen Wandels, das waren ja auch die Anhänger der grünen Bewegung, werden durch diese Boykottmaßnahmen in die Verarmung getrieben. Alle, die nach marktwirtschaftlichen Kriterien und westorientiert Geschäfte machen wollen, werden aus dem Markt gedrängt.
Greift Israel den Iran noch vor den US-Wahlen im November an?
Das ist völlig offen. Die Chancen stehen fifty-fifty. Obama hat überhaupt kein Interesse daran, vor den Wahlen gegen den Iran vorzugehen. Trotzdem haben die Amerikaner bereits vier Flugzeugträger im Persischen Golf stationiert. Netanjahu und sein Verteidigungsminister Ehud Barak haben aber noch ein weiteres Problem: Israelische Sicherheitsexperten, Generäle und auch der renommierte Ex-Mossad-Chef Halevy sind gegen einen israelischen Alleingang.
Iran beteuert, er werde notfalls auf der Seite Assads in einen Krieg eintreten. Was bedeutet das für die Lage in der Region?
Die Forderung nach dem Sturz Assads seitens der EU, der USA, der Türkei und auch der Saudis hat nichts mit den unsäglichen Verbrechen des syrischen Diktators zu tun. Sondern damit, dass Syrien der letzte verbliebene Verbündete des Iran in der Region ist. Umgekehrt eint Teheran, Peking und Moskau der Wille, nicht noch ein Land an die westliche Einflusssphäre zu verlieren. Es ist ja allen klar, dass diese Länder nach dem Sturz von Assad in Syrien nichts mehr zu melden hätten. Sie werden Assad daher bis zum Letzten unterstützen.
Sie finden, „der Westen“ begreife nicht, wie gefährlich ein Krieg gegen Iran auch für ihn, insbesondere für Europa sein kann.
Wir haben es von Libanon und Syrien bis nach Pakistan mit einem massiven Staatszerfall zu tun. Iran ist der einzige Ruhepool zwischen Beirut und Karatschi. Wenn man den jetzt angreift, dann gibt es in einer Region, so groß wie Westeuropa, keine Grenzen mehr für gewalttätige Gruppierungen, die sich irgendeinen Dschihad auf ihre Fahne schreiben und den Westen bekämpfen. Militärisch ist das eine nicht mehr zu kontrollierende Situation.
Vergleichbar mit Afghanistan?
Afghanistan, potenziert mit dem Faktor 10. Es ist doch klar: Greift man den Iran an, wird er sich rächen und alle möglichen gewalttätigen Gruppen unterstützen, um dem Westen nach Kräften zu schaden. Ein Angriff auf den Iran würde die gesamte Region in Brand setzen. Die Europäer haben noch immer nicht begriffen, welche Gefahren dann auf sie zukämen.
Und die wären?
Zur Vergeltung wird es Terroranschläge geben, und die Ölpreise werden explodieren. Hinzu kämen massive Flüchtlingsbewegungen. Die USA sind von diesen Problemen noch durch den Atlantik geschützt, Europa ist es nicht. Bis heute aber wiederholt die EU nur US-amerikanische Standpunkte. Bis heute hat die Bundesregierung nicht eingestanden, dass die Politik in Afghanistan falsch war, einfach falsch.
Welche Rolle spielen die Medien bei der Aufarbeitung von Fehlern?
Keine rühmliche. Die Leitartikler der führenden Medien sind mehrheitlich der Meinung, im Falle eines israelischen Angriffs müssten wir Partei ergreifen für Israel. Selbst wenn der Angriff völkerrechtswidrig ist. Das ist eine törichte und gefährliche Position. Die kann man doch nach den Erfahrungen mit Irak und Afghanistan nicht ernsthaft einnehmen! Alle Versuche, mithilfe westlicher Militärinterventionen prowestliche Regime in der Region einzusetzen, scheiterten.
Was passiert, wenn Mitt Romney an die Macht kommt?
Dann ist der Krieg gegen den Iran eine beschlossene Sache.