Von allen Visionen befreit

betr.: „Abschied von der Politik“ von Michael Rutschky, taz vom 26. 7. 05

Na Klasse: Der Taxifahrer, der es wagt, Rot-Grün wegen Korruption und verratener Ideale zu kritisieren, wird durch das Aussteigen seines Fahrgastes Michael Rutschky bestraft. Dabei gab es ja durchaus Ludger Volmer, die Flugmeilenaffäre und eine uns Laien doch immer wieder erstaunliche, unverständliche VW-freundliche Politik. Andererseits gab es Versprechungen einer ausdrücklich als pazifistisch angetretenen Partei, Versprechungen, die Arbeitslosigkeit zu beseitigen und und und …

Aber ich verstehe: Wir, die wir so dumm sind, eine Regierung tatsächlich an ihren Versprechen zu messen, müssen uns von Papa Joschka (und Onkel Rutschky) erst einmal klar machen lassen, dass Pazifismus nicht die neue „Weltreligion“ ist und wir offenbar alle Heilserwartungen aufgesessen sind. Bei all seinem (herablassenden) Verständnis für alte Linksparteiler und junge Attacis ist es laut Rutschky von diesen Heilserwartungen nur ein kleiner Schritt zu „Fundi-Sekte“, RAF-Verehrern und – weil man das als taz-Essayist nicht weiter differenzieren muss – zu Al-Qaida-Anhängern! Da sei doch der von jeder Vision befreite und damit nicht mehr zu enttäuschende Pragmatismus davor.

Erstaunlich nur, dass der sich über seine von „religiösem“ „Hass“ getriebenen Zeitgenossen erhebende Autor, angesichts des „stoischen“ Bohrens dicker Bretter, das er propagiert, dennoch ärgert.

Bei allem Unverständnis für Arroganz, bei allem Verständnis aber für das Trauma dessen, der das Auseinanderbrechen der 68er Bewegung in kleine und kleinste sich bekämpfende Gruppen erlebt hat und nun Wiederholung befürchtet: Das Phänomen, dass die, die sich von Fesseln befreit haben, eine plötzliche Angst vor dem freien Fall entwickeln und sich dann umso rigider festbinden (lassen), ist bei zahlreichen Revolten und Revolutionen zu beobachten. Das gibt Anlass, über die dahinter stehende Angst (und vielleicht die „Unheilserwartungen“?) nachzudenken, taugt aber nicht dazu, deshalb Visionen und Wut und Kritik wegen enttäuschter Hoffnungen als in die Irre führende Heilserwartungen zu dämonisieren.

STEPHAN SCHULZ, Konstanz