: Kaschmir, mon amour
DAS SCHLAGLOCH von RENÉE ZUCKER
Ich bin weder für den Himmel begnadet noch zur Hölle verflucht, (…) Aber ich glaube nichts hier und erhoffe nichts dort. Omar Khayyam
„… die Weltlage hat sich seit gestern verändert, und du bist mal wieder in Indien“, stand in der Mail aus Berlin; die Betreffzeile der Mail aus London lautete: „I’m safe“. Um diese zwei Sätze zu lesen, hatte es nahezu eine Stunde vor einem vorsintflutlichen Computer gebraucht.
Kaschmirs Internetanschlüsse laufen über langsame Telefonleitungen und brechen gern alle paar Stunden mit der allgemeinen Stromversorgung zusammen. Auf Srinagars Straßen herrschte nur das übliche Freitagstreiben, niemand schien aufgeregt oder besorgt, und immer noch hatte ich keine Ahnung, wovon in den Mails die Rede war. Ich ging zum Laden von Ahmad.
Mit dem Verkauf von gebrauchten Büchern, Sufi-Musik und Zeitungen ernährt er seine Mutter und zwei Schwestern. Den Vater hat die indische Armee erschossen. Jede Familie in Srinagar hat irgendeinen männlichen Verwandten, der von der Armee erschossen wurde. Ahmad schmökerte gelassen in irgendwelchen Magazinen und lauschte einem Sampler von Qawwali-Sängern. In der Hindustan Times bräuchte ich gar nicht zu gucken, sagte er, „nimm Greater Kashmir, die haben einen späteren Redaktionsschluss.“
„London Bomb Blast“ klang wie der Name einer fiesen Death Metal Band. „Möchtest du wissen, was ich darüber denke?“, fragte Ahmad, während ich die kargen Informationen auf der ersten Seite der englischsprachigen Tageszeitung Kaschmirs durchlas. „If you don’t mind, ich bin wirklich froh, dass es passiert ist.“ „Ach ja?“, fragte ich nach. „In Kaschmir gehen seit fünfzehn Jahren so oft Bomben hoch, dass man die Anschläge und die Toten nicht mehr zählt“, sagte Ahmad, „niemand von euch hat sich je dafür interessiert. Aber jetzt, wo es in Europa passiert, ist jeder plötzlich betroffen und schreit auf.“
Ahmad hat Recht. Vor allem, wenn man Kaschmir durch Bagdad, Falludscha, Islamabad, Kabul und diverse afrikanische Staaten und Städte ergänzt. Ahmad hat Recht, und es ist müßig, darüber zu streiten, was U-Bahn-Passagiere in London mit dem Krieg in Irak zu tun haben und ob es überhaupt mit dem Krieg in Irak zu tun hat, wenn jungen Männern das Leben nichts mehr wert ist.
„Wieso helft ihr uns nicht?“, fragte mich der Zeitungshändler plötzlich verzweifelt und vorwurfsvoll, und für einen kurzen Moment überlege ich, ob es irgendetwas gibt, das ich unterlassen habe, um den Menschen in Kaschmir ein besseres Leben zu ermöglichen. Gerade noch war ich der Feind, der auf der Sonnenseite lebt und dem man auch mal ein paar dunkle Stunden wünscht, und plötzlich bin ich die große, allwissende Mutter, die Lösungen, Schutz und Wohlstand aus ihrem unendlichen Schoß hervorzaubert. „Was sollten wir denn tun, um euch zu helfen?“, fragte ich zurück, als ob es eine Botschaft gäbe, die ich meinen Leuten zu Hause mitbringen könnte und womit dann alles besser würde. „Nur Europa und Amerika können helfen“, glaubt Ahmad, „ Indien und Pakistan sind beide gierige Bestien. Wenn man ihnen etwas hinwirft, dann schnappen sie sofort danach und lassen Kaschmir aus ihren Klauen“.
Ich liebe Ahmad für seine Poesie und seine kraftvollen Bilder, aber ich habe einfach nichts anzubieten, wonach Indien und Pakistan schnappen wollten.
„Und wieder bist du in Indien“ klang so vorwurfsvoll, als sei ich aus der Welt gegangen, als habe ich mich der realen Probleme entzogen, dabei fragte ich mich speziell auf dieser Reise öfter, ob es nicht eine entspannendere Art gibt, Urlaub zu machen. Eine, in der man nicht nachts von Schusswechseln geweckt wird; wo man nicht mit Anbruch der Dunkelheit von der Straße weg sein sollte; wo man nicht mit ansehen muss, wie alte und junge Männer von Soldaten gezwungen werden, aus dem Bus zu steigen und sich einer Leibesvisitation zu unterziehen, wo man nicht täglich mit der Trauer und Resignation der Menschen konfrontiert ist, wo man nicht ständig über Geld oder Gott reden muss. Ein bisschen weniger Wirklichkeit hätte es durchaus getan.
Ich erinnere mich daran, wie mein Afghane immer davon geschwärmt hatte, wie es war, wenn man aus der steinern staubigen Hitze Herats kam und sich plötzlich der Garten Eden des frisch grünen Kaschmirtals vor einem öffnete. „Paradies on earth“ verspricht das erste Schild, das man auf dem Weg vom Flughafen nach Srinagar zwischen all den Army-Checkpoints lesen kann. Ist es hier nicht das Paradies auf Erden?, fragen die Kaschmiren die Fremden immer wieder, als ob sie es selbst nicht mehr glauben könnten. So fremd kann man allerdings gar nicht sein, dass man dies für das Paradies halten könnte, aber jeder versichert immer wieder, wie schön es hier doch ist.
Und tatsächlich muss es sehr schön gewesen sein in jenen goldenen Siebzigerjahren, als meine Generation über den Istanbuler „Pudding Shop“ nach Afghanistan, Persien, Pakistan und Indien reiste. Als das Nebeneinander hoffnungsloser Wirklichkeiten zur Erweiterung des eigenen Bewusstseins diente und die Fähigkeit zum Selbstbetrug nur noch von den Mengen an Dope übertroffen wurde, die man in Hookahs und Chillums stopfen konnte. Wie war Aussteigen angesichts entsetzlicher Armut, großer Ungerechtigkeit und katastrophaler Hygiene möglich?
Vermutlich genauso wie heute, wenn man nur ignorant genug ist, auch wenn die Illusionsbereitschaft geringer geworden scheint. „Im Dreck liegt eine immense Freiheit“, hatte Michelle einmal zu mir gesagt, als wir an irgendeiner Straßenecke in Tiruvannamalai hockten und vor lauter Hitze und Blödigkeit nur noch Muster in den Staub malen konnten. Und obwohl wir seinerzeit gar nichts geraucht hatten, schien mir der Satz meiner jungen Reisebegleiterin von tiefer Weisheit. Tatsächlich waren wir so frei, heute im indischen Dreck zu spielen und morgen den Flieger nach Europa zu besteigen.
„I’m safe“, hatte Michelle aus London sofort an alle Freunde in der Welt gemailt, denn es hätte sie ja treffen können, wie so viele andere auch. Meine kaschmirischen Freunde haben noch nie „I’m safe“ gemailt. Das könnte daran liegen, dass sie nicht schreiben können, oder dass gerade wieder kein Strom da ist, oder dass sie nie „safe“ sind.
Gestern hab ich mit Riyaz telefoniert. Nachdem die gesundheitlichen Befindlichkeiten der gesamten Familie durchgekaspert waren, erzählte er, dass er vorgestern im Büro von Ashraf gesessen habe. Ashraf sei aber nicht da gewesen und er habe eine halbe Stunde auf ihn gewartet. Dann sei sein Cousin Hilal gekommen und habe ihn gedrängt, nach Hause zu gehen. „Lass uns doch noch fünf Minuten bleiben. Vielleicht kommt Ashraf“, habe er gesagt, aber der Cousin habe darauf bestanden, zu gehen. Als sie etwa 300 Meter von dem Büro entfernt waren, explodierte die Bombe. „Kannst du dir das vorstellen?“, fragt Riyaz, und ich höre zum ersten Mal etwas wie Beunruhigung in seiner sonst immer so gelassenen Stimme, „nur zwei Minuten später …“. Niemand ist safe, die Weltlage hat sich nicht verändert, und ich bin wieder mal nicht in Indien.