piwik no script img

Das bewegliche Multitalent

Die Wirklichkeit ist eine gefundene Realität, sagt der Künstler und Tänzer Daniel Spoerri, der heute 90 wird

Zwischen Hasenpfoten, Schrauben und tausend Glasaugen: Daniel Spoerri an seinem Arbeitstisch Foto: Barbara Räderscheidt

Von Sebastian Strenger

Wie alle 18-Jährigen begann er zu dichten und wollte Schriftsteller werden. In den Existenzialistenkellern – mit Sartre und Simone de Beauvoir im Rucksack – lernte er 1950 den Choreografen Max Terpis kennen. Es wurde eine schicksalhafte Begegnung. „Er war ein Vaterersatz für mich und meinte, ich hätte tänzerisches Talent“, sagt der am 27. März 90 Jahre alt werdende Daniel Spoerri rückblickend.

Terpis meldete ihn kurzerhand an der Theatertanzschule in Zürich an. „Bedeutende technische Fortschritte habe ich im Tanz nicht gemacht, aber ich blieb dabei, weil ich das Gefühl hatte, ich habe jetzt zum ersten Mal etwas in den Fingern, und das lasse ich nicht mehr los“, sagt der Realist Spoerri, bevor er zum Neuen Realisten wurde.

Mit zwanzig sagte sein Ziehvater: „Eigentlich müsstest du jetzt nach Paris gehen und dort richtig beginnen“, erinnert sich der Weltenbummler. Gesagt, getan. Dort verbrachte Spoerri die Jahre von 1950 bis 1955. Vor dem Hintergrund weltgeschichtlicher Verwerfungen erlebte Paris in diesen Jahren seine Wiedergeburt. Spo­er­ri befand sich mittendrin.

„Ich merkte aber sehr schnell, dass ich als Berufstänzer, zumindest in Paris, mit meinem technischen Niveau nichts werden konnte“, lautet die Selbstkritik des Künstlers. Und so ging er als Solotänzer ans Operettentheater nach Bern. Er genoss es, nach den Vorstellungen seinen weiblichen Fans Autogramme zu geben. Doch etwas hatte ihn verändert. „In Paris hatte ich aber ganz andere Sachen gesehen, die mir viel besser gefielen“, und so begann er, selbst zu inszenieren. Seine Freunde in Bern unterstützten ihn. Aber es waren vor allem seine Künstlerfreunde wie Bernhard Luginbühl, Dieter Roth oder André Thomkins, die ihn darin bestärkten, zurück nach Paris zu gehen. „Dort wollte ich so eine Art Regie in der Kunstszene machen und entdeckte dabei die Multiplikation“, sagt der mit unternehmerischem Talent ausgestattete Künstler.

Multiplizierte Kunst oder auch Auflagenkunst genannt – war sein Einstieg. Er gründete die erste Multiple Edition – zunächst „material“, dann die „Edition MAT“. Durch das Talent des Netzwerkers Spoerri waren sehr rasch Künstler dabei wie Marcel Duchamp, Man Ray, Victor Vasarely und Josef Albers. Unter den Jüngeren befanden sich Jean Tinguely, Agam, J. R. Soto, Dieter Roth und Karl Gerstner. Sie alle spannte der Jungunternehmer für seine Idee einer Multiple Edition ein und machte mit ihren Objekten Ausstellungen und Tourneen.

Das besondere der Objekte: Sie alle konnten sich bewegen oder bewegen lassen. Die Beschäftigung mit dem Zustand der Veränderung wurde für Spoerri zur Obsession. Und die zunehmende Beschäftigung mit Kunst formte aus dem Unternehmer und Ausstellungsmacher Spoerri den Künstler, der seit den 1960er Jahren durch seine sogenannten Fallenbilder berühmt wurde.

Er erinnert sich: „Ich saß einmal im Flugzeug und schaute hinaus. Unten auf der Erde bewegte sich scheinbar nichts, obwohl wir mit 800 oder 900 Stundenkilometern durch die Luft rasten. Da erkannte ich, dass zur Bewegung auch der Stillstand gehört. Und zwar der Stillstand von Situationen, die sich sonst immer bewegen.“ Fortan suchte er nach vergleichbaren Situationen im Alltag und fand den Möglichkeitsraum Tisch. „Dort manipulieren wir unbewusst die Objekte, wenn wir etwa den gebrauchten Löffel achtlos ablegen“, und so entstand das „Tableau Piège“ – das Fallenbild.

Als er sich mehr mit der Verbindung von Koch- und bildender Kunst befasste, entwickelte sich daraus die Eat-Art, als deren Begründer Spoerri gilt. „Früher schlemmte man nicht, sondern man ernährte sich nur, gerade ausreichend. In meiner Kindheit hatte ich nie genug“, erinnert sich der gebürtige Rumäne. Typisch für Spoerri – er nahm in seinen Brotobjekten den Abfall ins Brot auf, anstatt das Brot in den Abfall zu werfen.

„Essen war für mich eine sehr primäre Angelegenheit, denn das Essbare ist das Veränderlichste, was es überhaupt gibt“, sagt Spoerri; eine Erkenntnis, die er aus New York mit in die Landeshauptstadt Düsseldorf brachte. Dort hatte der Künstler von 1968 bis 1972 ein Restaurant und gründete 1970 eine Etage darüber die Eat-Art-Galerie.

Im Restaurant konnte man seinen Tisch bestellen; dessen Platte ließ sich herausheben, um alle Objekte darauf zu fixieren. Eben so, wie man den Platz verlassen hatte. Wirrwarr mit Ziga­ret­ten­asche auf der blauen Tischdecke, zerknüllten Servietten auf dem Teller und Speisereste auf dem Tellerrand, mit den Rändern der Rotweingläser verteilt über die Fläche von einer Größe von 70 x 70 Zentimeter.

Daniel Spoerri nahm in den Brotobjekten seiner Esskunst den Abfall ins Brot auf – anstatt das Brot in den Abfall zu werfen

Und das bekam am Ende seinen Platz an der Wand – ein Fallenbild für jedermann. Oder doch nicht? „Ich wollte 1.000 Mark pro Tisch, aber die Leute fanden das Wahnsinn. Es war ja nur Geschirr für 20 Mark drauf“, schmunzelt Spoerri. Dennoch kamen Gäste. Und mit den Jahren wurden sie zahlreicher. Vorneweg Wolfgang Hahn, Konrad Klapheck, Gerhard Richter und auch schon mal Gunter Sachs. Es brodelte.

Das Restaurant mit der Galerie darüber wurde der spannendste Durchlauferhitzer in der Kunst der rheinischen Metropole. Ein Experimentierlabor für Künstler mit zahlende Gästen. Viele andere Künstler inspirierte dies, wie etwa Joseph Beuys mit seiner dort durchgeführten legendären Aktion der „1a gebratenen Fischgräte“. „Man konnte sogar ins Taxi steigen und ‚zum Spoerri‘ sagen. Jeder wusste, wo das war“, erzählt der Künstler und steht auf, um ins Wohnzimmer an den großen Schreibtisch zu gehen.

Zwischen Hasenpfoten, Schrauben und 1.000 Glasaugen befindet sich hier das heutige Labor des Neuen Realisten Spoerri. Heißklebepistole und Lötkolben zwischen einem überbordenden Sammelsurium von Objets trouvés, Souvenirs und Tierpräparaten. Um die Ecke Wiens Naschmarkt mit seinem Samstags-Flohmarkt. Gleich ganze Flohmarktstände mit ordentlich nebeneinander drapierten Utensilien mit Preisschildern kaufte der Künstler hier, um sie als Fallenbilder zu fixieren.

Alles war also wie immer. Wie in jenen Tagen, als der Kunstkritiker Pierre Restany die Gruppe der Neuen Realisten zusammenbrachte, um sein Manifest zu verabschieden. Es waren die Tage, an den seine Galeristin Jeannine de Goldschmidt-Rothschild alle der Reihe nach ausstellte und man sich über den Begriff der Realität einig war.

„Sie war für uns eine gefundene Realität, die jeder für sich nach einem anderen Konzept darstellte“, und dessen Spektrum seit 2009 in Hadersdorf am Kamp, 70 Kilometer vor den Toren Wiens mit wechselnden Ausstellungen zu sehen ist. Freunde der südlichen Toskana finden im „Giardino di Daniel Spoerri“ die Gelegenheit, auf 16 Hektar mit 113 Installationen seiner Lebens- und Freundesgeschichte nachzuspüren. Oder im Restaurant nach der Eat-Art zu forschen. Na dann: „Guten Appetit“ und „Herzlichen Glückwunsch“, Daniel Spoerri.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen