: Lücken im kollektiven Gedächtnis
Aysun Bademsoy porträtiert in ihrem sehenswerten Dokumentarfilm „Spuren“ Angehörige von NSU-Opfern. Am Samstag sprach die Regisseurin über die Hintergründe im Lichtblick-Kino in Prenzlauer Berg
Von Katharina Granzin
Dicht an dicht gepackt sitzt das Publikum am Samstag im handtuchschmalen Lichtblick-Kino in Prenzlauer Berg. Die Betreiber:Innen hatten Stühle dazugestellt, dennoch mussten Zuschauer weggeschickt werden, der kleine Saal ist überfüllt: Das Interesse an einem Gespräch mit der Regisseurin Aysun Bademsoy, deren Dokumentarfilm „Spuren“ ein paar Tage zuvor seine Kinopremiere hatte, ist groß. Bademsoy hat dafür Angehörige von Opfern des NSU-Terrors porträtiert. Sie zeigt, wie Hinterbliebene mit ihrer Trauer fertig werden und mit dem Gefühl, von den Behörden verraten worden zu sein.
Damit füllt sie eine Lücke in der öffentlichen Aufarbeitung der Mordserie. Kein Film hat bisher so stark die Perspektive der Betroffenen eingenommen. Ausgenommen der Filmemacher Andreas Maus, der sich in „Der Kuaför aus der Keupstraße“ (2015) intensiv mit dem Nagelbombenanschlag in Köln und der schlampigen Ermittlungsarbeit der Behörden befasst.
Aysun Bademsoy hat für ihren Film Angehörige von drei Familien interviewt. Sie sprechen vor der Kamera offen und persönlich; der Kontakt, erzählt die Regisseurin beim Podiumsgespräch, wurde am Ende enger als zunächst geplant. Ein Teil des Films sei in der Türkei entstanden, dort hat sie die Angehörigen von Enver Şimşek getroffen, dem im Jahr 2000 ermordeten Blumenhändler aus dem hessischen Schlüchtern. Mehrere Tage habe sie mit seiner Witwe Adile verbracht und sei beeindruckt von ihr gewesen. Auch im Film ist das Charisma von Adile Şimşek deutlich zu spüren. Zur Filmpremiere in Frankfurt schließlich seien etwa 20 Angehörige der Familie gekommen.
Wie hat sie die Angehörigen dazu gebracht, sich vor der Kamera so zu öffnen?, fragt Moderator Axel Bussmer (Humanistische Union). Es seien letztlich nur wenige gewesen, die bereit waren, in einem Film aufzutreten, erklärt die Regisseurin. Sie habe zwar versucht, alle betroffenen Familien zu kontaktieren, aber die Meinungen zu so einem öffentlichkeitswirksamen Projekt seien sehr unterschiedlich ausgefallen. Viele wollten nichts damit zu tun haben; eine Familie habe es immerhin gestattet, ein Zusammentreffen aus der Ferne zu filmen. InterviewpartnerInnen hätten mehrheitlich nicht zu Hause gefilmt werden wollen. Alle Interviewten hätten die Drehorte der Gespräche selbst gewählt.
Bademsoy ist noch sehr nah dran an dem Thema. Eindringlich beschreibt sie, wie sehr die Hinterbliebenen über Jahre durch die Ermittlungsbehörden gequält worden seien, wie sie verdächtigt, stigmatisiert worden seien und wie ihr Leben durchleuchtet wurde. Die persönliche Katastrophe, die der gewaltsame Tod der Ehemänner, Väter, Brüder bedeutete, brachte in der Regel auch eine finanzielle Katastrophe mit sich. Weder eine angemessene Entschädigung sei den Angehörigen bisher angeboten worden, noch habe es je eine offizielle Entschuldigung für das skandalöse Versagen der Institutionen gegeben.
Und als der NSU-Prozess nach fünf langen Jahren mit einem derart unbefriedigenden Ergebnis zu Ende gegangen sei, habe der Richter es nicht einmal für nötig gehalten, den Angehörigen der elf Ermordeten für ihre Geduld und ihren Anstand zu danken. „Im Nachhinein habe ich gedacht, man hätte den Prozess viel mehr stören sollen“, sagt Bademsoy. Auch hätten die Verhandlungen meist drei Tage gedauert, während es aber nur für zwei Tage eine Aufwandsentschädigung gab, sodass der Prozess für die Hinterbliebenen auch noch eine teure Angelegenheit wurde.
Dann spricht sie noch über den Verfassungsschutz, der über seine V-Leute jede Menge Steuergelder in die Naziszene gepumpt und in der NSU-Affäre eine sehr zwiespältige Rolle gespielt habe. Abschaffen sollte man ihn, erklärt sie. Auch dafür gibt es zustimmenden Applaus.
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