Gescheite, breite Auswahl

NACHWENDEZEIT Die Ausstellung „Berlin 89/09 – Kunst zwischen Spurensuche und Utopie“ sucht Einblicke in die Prozesse zu geben, in denen sich die Stadt seither verändert hat

VON JULIA GWENDOLYN SCHNEIDER

Auf einer Freifläche, die den Blick auf den Reichstag und das Brandenburger Tor eröffnet, gießt ein Mann den natürlichen Wildbewuchs. Lois Weinbergers künstlerische Intervention von 1994/95 zeigt das vielleicht radikalste Nutzungskonzept urbaner Brachen. Der Künstler erklärt das von sich aus Entstehende zum schützenswerten Gut und regt zum Nachdenken über unsere Einstellung zu und unseren Umgang mit verlassenen urbanen Räumen an.

Utopische, symbolische oder temporäre Um- und Zwischennutzungen städtischer Brachen bilden einen der drei Stränge in der Ausstellung „Berlin 89/90 – Kunst zwischen Spurensuche und Utopie“ in der Berlinischen Galerie. Den Tatlin-Turm aus russischer Revolutionszeit wollte Norbert Kottmann auf dem Potsdamer Platz als Wiedervereinigungssymbol gebaut sehen. Das Bauschild auf dem damals noch leeren Platz beschreibt den Turm zugleich als „Parlamentsgebäude für die vereinigten Nationen von Eurasien“, das gemeinsam von EU und GUS errichtet werde. Eine Vision, die zeigt, wie weitreichend die historischen Ereignisse damals empfunden wurden.

Tobias Hauser rekonstruierte 2002 die legendäre Blockhütte des amerikanischen Reformphilosophen Henry David Thoreau (Walden. Oder das Leben in den Wäldern 1854) am Leipziger Platz, in der städtebaulichen Realität der aufstrebenden Hauptstadt, direkt in der Blickachse zum Sony Center und zu Hans Kollhoffs Backsteinhochhaus. Er stellt ihnen einen Rückzugsort des Innehaltens und Nachdenkens entgegen.

In der breit angelegten Gruppenshow kommen künstlerisch bearbeitete Befindlichkeiten zu Tage, die ein vielfältiges Bild der Berliner Veränderungsprozesse nach dem Mauerfall dokumentieren. Die geschickt gewählte Choreografie eröffnet einen historischen Blick auf die letzten 20 Jahre, der bis in die Gegenwart reicht und zugleich nach Wünschen für die Zukunft dieser Stadt im Werden fragt.

Die Sektkorken der Einheit

Direkten Bezug auf die Ereignisse des 9. November 1989 nimmt nur Bettina Sefkow. Sie lichtete gesammelte Sektkorkendrähte von den Feierlichkeiten in Originalgröße nüchtern als stumme Zeugen des historischen Ereignisses ab. An der gegenüberliegen Wand entwirft Bjørn Melhus’ Video ein beunruhigendes Szenario der Wiedervereinigungsfeier. Als unscharfe Reproduktionen von Fernsehbildern flackert das friedliche Fest nun plötzlich als gespenstisches Szenario auf. Johlende Massen, knallende Feuerwerkskörper und geschwenkte Fahnen schüren medial Ängste vor dem wiedervereinigten Deutschland.

Viele Arbeiten beschäftigen sich mit historischen Spuren, die mit dem Fall der Mauer zum Vorschein kamen oder danach entfernt wurden. Die französische Künstlerin Sophie Calle machte 1996 Aufnahmen von den Leerstellen, die abgetragene Symbole und Denkmäler der DDR hinterlassen hatten. Das Nicht-Mehr-Sichtbare erinnert sie durch Beschreibungen aus Erinnerungen von Anwohnern und Passanten . Diese persönlichen, lückenhaften Aufzeichnungen verdeutlichen in ihrer Emotionalität, dass diese Abrissaktionen bei aller Distanz auch eine schmerzhafte Auslösung von Jahrzehnten der eigenen Existenz bedeuten.

Wie Phantombilder wirken auch Karsten Konrads Modelle des Außenministeriums und des „Ahornblatts“. Die gegenüber den abgerissenen Originalen aus der Erinnerung leicht variierten Gebäude zitieren die verschwundene DDR-Moderne und verwandeln sie zu Traumbildern des unterbewussten kulturellen Gedächtnisses. Nina Fischer & Maroan el Sani transformieren den zerstörten Palast der Republik in eine beharrlich bummernde Soundskulptur, aus der trotz Abriss die Utopie einer nachfolgenden Nutzung unermüdlich weiterklingt.

Neben dem Palast der Republik, der immer wieder auftaucht, und neben dem explosionsartigen Bauboom am Potsdamer Platz findet aber die gesamte Stadt der Nachwendezeit Einzug in die künstlerischen Auseinandersetzungen. In Reynold Reynolds Videoarbeit von 2004 überlagern sich die historischen Schichten aus West und Ost – ohne sie je völlig auszulöschen – in einem vielschichtigen Porträt. John M. Armleders Malerei-Installation „Lido (Kurfürstendamm)“ thematisiert dagegen das Ende der politischen und kulturellen Hegemonie der USA über Westberlin.

Am weitesten ab von den prominenten und vertrauten Perspektiven vieler Arbeiten bewegt sich die Blickrichtung von Stefanie Bürkle. Hier wird nicht das allgegenwärtige Bild der internationalen Kunstmetropole gefeiert. Bürkle visualisiert vielmehr behutsam entlang den Rändern und Brüchen die Auswirkung des Mauerfalls auf verschiedene ausländische Bevölkerungsgruppen und zeigt, welch vielschichtiger Transfer von Raumkonzepten sich neben den zentralen Schauplätzen des Wandels auftut. „Berlin 89/09“ ist eine gescheite und breite Auswahl gelungen.

■ bis 31. Januar 2010, Berlinische Galerie, Berlin