: Die Versuchung der Überlegenheit
Sechzig Jahre nach Hiroschima ist die Atomkriegsgefahr größer als je zuvor. Das Thema nukleare Abrüstung muss auf Platz eins der weltpolitischen Agenda gehievt werden
Der Schatten Hiroschimas ist erst sechzig Jahre alt, aber er ragt nicht mehr in das Weltbild unserer Politiker. Sonst hätten sie nicht stillschweigend hingenommen, dass im Mai in New York die Türen für neue Atomschläge weit geöffnet wurden. Was als Überprüfungskonferenz für den seit 1968 geltenden Nichtweiterverbreitungsvertrag für Kernwaffen (NPT) geplant war, geriet faktisch zu dessen Beisetzungsfeier. Die Blockfreien kündigten ihren Atomwaffenverzicht auf, weil die fünf legalen Besitzer nicht abrüsten wollen. Diese verlangten die Unterwerfung der Habenichtse, behielten aber selbst ihre Atomwaffen und damit die Möglichkeit, diese Unterwerfung notfalls zu erzwingen.
Diesen Fehler hatten die USA schon einmal, nämlich 1947, gemacht, als sie mit dem Baruchplan alle Atomwaffen den Vereinten Nationen übergeben lassen, die eigenen aber behalten wollten. Die Überlegenheit währte nur kurz, führte, weil die Sowjetunion mit Wasserstoffbombe und Sputnik wenig später nach- und davonzog, stracks in die Rüstungsdynamik des Kalten Krieges. Die Logik dieser Entwicklung kann man in jedem Handbuch des Rüstungswettlaufs nachlesen. Das Streben nach Überlegenheit führt nur zu neuer Unsicherheit auf einem jeweils höheren Niveau von Rüstung. Selbst Henry Kissinger, Chefarchitekt der US-Sicherheitspolitik, musste einräumen, dass die Bestückung der amerikanischen Atomraketen mit Mehrfachsprengköpfen nichts weiter erbracht hat als sowjetische Mehrfachsprengköpfe.
Es dauerte dreißig Jahre, bis die USA aus diesem Fehler lernten und begannen, Sicherheit kooperativ zu erzeugen. Kissinger und Nixon eröffneten mit den Rüstungskontrollverträgen Salt I und II eine „Ära des Friedens“ mit Moskau. Der NPT-Vertrag versuchte kooperativ und multilateral, alle Staaten für den Atomwaffenverzicht zu gewinnen. Das ging ganz gut und hätte noch besser gehen können, wenn der Anreiz größer und der Schönheitsfehler kleiner gewesen wäre. Denn: Die legalen Atomwaffenbesitzer hatten sich zwar zur Abrüstung bereiterklärt, aber den Zeitpunkt offen und damit ihr Überlegenheitsstreben intakt gelassen.
Was kommen musste, kam nach 1990 umso schneller, als das Ende des Ost-West-Konfliktes und das der Sowjetunion die USA mit einer einzigartigen Machtfülle ausgestattet hatte. Lag es da nicht nahe, die durch die Tradition gesalbte Strategie der Überlegenheit wieder hervorzuholen? Einen neuen Namen hatte diese alte Strategie schon: Counterproliferation. Die früheren sowjetischen Kernwaffen verrosteten unter Kontrolle, die chinesischen waren nicht ernst zu nehmen, und eventuelle spätere Gegenschläge beider ließen sich doch mit einem US-Raketenabwehrsystem abfangen.
Die Versuchung, den Verzicht auf Nuklearwaffen doch wieder der eigenen militärischen Überlegenheit anzuvertrauen statt der kollektiv-kooperativen Rüstungskontrolle, war also entsprechend groß. Ihr zu erliegen, bedurfte es aber doch einer Regierung George W. Bush, die sich der Schaffung eines „neuen amerikanischen Jahrhunderts“ verschrieben und die Erfahrung verdrängt hat, dass diese Strategie die Weiterverbreitung der Kernwaffen nicht verhindert, sondern, wie es im Lehrbuch steht, vorangetrieben hatte. Kein Wunder, dass der Proliferationsprozess vorankommt.
Indien und Pakistan haben sich seit langem Nuklearwaffen zugelegt, der Irak war drauf und dran, Libyen auch, Nordkorea sowieso, der Iran ist auf dem Weg. Ägypten schielt nach Kernwaffen, Saudi-Arabien auch, Israel hat sie schon. Zwanzig Staaten stehen an der atomaren Schwelle, die meisten von ihnen im Krisenbogen von Nordafrika bis Vorderasien. Aber auch Länder wie Südafrika und Brasilien, die den Verzicht auf Kernwaffen bisher beibehalten haben, werden sich dem Sog nicht entziehen können, der jetzt entstanden ist.
Diese Entwicklung kann heutzutage ein Gewalteinsatz der USA ebenso wenig verhindern wie früher zu Zeiten des Kalten Krieges. Counterproliferation wird selbst bei kleineren Staaten wie dem Irak dem zum Verhängnis, der sich auf seine militärische Überlegenheit verlässt. Bilateral erfolgreich war ausschließlich eine kooperative Strategie, die Anreiz und Sanktion zu einem unwiderstehlichen Angebot verband, wie gegenüber Libyen und in Nordkorea. Sanktionen wirken, auch das hat der Irak gezeigt. Politisch differenziert arbeitende Offerten aber, die das Fehlverhalten bestrafen und das Wohlverhalten belohnen, sind noch aussichtsreicher.
Freilich setzen auch sie voraus, dass das in New York beerdigte Projekt der atomaren Abrüstung überhaupt wiederbelebt werden kann. Dazu ist wohl nur die Europäische Union imstande. England und Frankreich sind zwar Mitglieder im Atomclub und damit Teil des Problems. Sie sind aber auch, wie sie zusammen mit Deutschland im Iran demonstrieren, an kooperativen Konfliktlösungen interessiert, investieren viel in den Versuch, Gewaltanwendung zu verhindern. Die EU ist zwar keine Militärmacht, aber sie besitzt eine riesige Definitionsmacht, mit der sie erfolgreich das Thema der nuklearen Abrüstung auf das Tapet der Weltpolitik zurückbringen könnte. Weite Teile der amerikanischen Gesellschaft werden ihr dabei auch zustimmen. Europäische Innovationsfähigkeit wird gebraucht werden, um die alten Sachprobleme zu lösen: die Trennung ziviler von militärischer Nutzung des Brennstoffkreislaufes, die Verbesserung der Verifikation, die Gewährung verlässlicher Sicherheitsgarantien für Staaten, die auf Kernwaffen verzichten.
Das Nächstliegende aber ist das Wichtigste: Das Thema nukleare Abrüstung muss wieder entdeckt und auf den obersten Platz der weltpolitischen Agenda gehievt werden, dort, wo jetzt der Krieg gegen den Terror steht. Er ist wichtig, verblasst aber vor der Gefahr eines Nuklearkrieges. Diese liegt in der Verbreitung der Kernwaffen unter den Blockfreien, aber auch darin, dass sich die Großmächte auf einen solchen Krieg vorbereiten. Russland modernisiert seine Kernwaffen, China vermehrt sie, die USA behalten und verfeinern die ihren, sodass sie auch auf dem Gefechtsfeld eingesetzt werden können.
Wenn im Zeichen des amerikanischen Unilateralismus die multilaterale Weltordnung weiter zerfällt, taumelt unser Planet in die Machtkonflikte zurück, die die Prozessmuster der Zeit vor 1945 gebildet hatten. Der zwischenstaatliche Krieg wird zurückkehren und, weil die Barriere des NPT eingerissen worden ist, auch mit Kernwaffen geführt werden. Der nukleare Holocaust ist keine Horrorvision mehr, sondern eine realistische Perspektive.
Natürlich könnte auch der politische Terrorismus Atomwaffen in die Hand bekommen, zum „Catastrophic Terrorism“ werden. Wahrscheinlicher – und schlimm genug – ist, dass er zu biologischen und chemischen Waffen greifen wird. Zum Damoklesschwert unserer Welt aber ist der Atomwaffeneinsatz geworden. Es hat sich, sechzig Jahre nach den Gräueln von Hiroschima, beängstigend herabgesenkt.
ERNST-OTTO CZEMPIEL