Der Mensch als Ornament

Aufbruchstimmung, Wirtschaftswunder, Fortschritt: Die Ausstellung „Ludwig Windstosser. Fotografie der Nachkriegsmoderne“ würdigt einen zu Unrecht vergessenen Chronisten der jungen Bundesrepublik

Ludwig Windstosser: „Ausschau nach Thunfischen in der Bucht von Bakar, Jugoslawien“, ohne Datum, Silbergelatinepapier, © Staatliche Museen zu Berlin, Kunstbibliothek/Ludwig Windstosser

Von Thomas Winkler

Gleich am Eingang steigt man tief hinab in die Industrie­geschichte der Bundesrepublik Deutschland. Kässbohrer und Thyssen, Zeiss und Bosch, Rheinstahl und Ruhrglas steht da schwarz auf verblichenem Weiß, AEG, Aral, Dornier, Henkel, Hohner, Salamander. Glorreiche Namen aus Wirtschaftswunderzeiten, manche noch existent, andere längst verschwunden und viele, die man gar nicht mehr kennt wie HOAG, Fematex, Gretsch.

Hinter Glas, rechts und links des Eingangs im Museum für Fotografie, haben die Ausstellungsmacher ein paar Hundert Fotokartons aufgestapelt und so das Archiv von Ludwig Wind­stosser nachempfunden. Diese Installation empfängt den Besucher von „Ludwig Windstosser. Fotografie der Nachkriegsmoderne“, der ersten echten Retrospektive eines, so formuliert es Sammlungsleiter Ludger Derenthal, „der führenden Industriefotografen“ dieses Landes.

Heute mag der 1921 in München geborene und 1983 in Stuttgart verstorbene Windstosser weitgehend vergessen sein. Doch nicht nur das Portfolio von mehr als 150 Firmen, für die er in den Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg gearbeitet hat, ist beeindruckend. Wind­stosser hat sowohl als Industriefotograf unseren Blick auf den wirtschaftlichen Aufschwung Westdeutschlands in der Nachkriegszeit entscheidend geprägt als auch in Fotobüchern sehr erfolgreich Städte porträtiert – und nicht zuletzt als Gründungsmitglied der Gruppe „fotoform“ eine wichtige Rolle dabei gespielt, dass die Fotografie als Kunstform ernst genommen wurde.

Rigorose Neuausrichtung

„Fotoform“, 1949 gegründet von sechs Fotografen, war nur wenige Jahre aktiv. Aber in dieser kurzen Zeit erregte die Gruppe mit ihren avantgardistischen Arbeiten großes Aufsehen. Auf ungefähr einem Drittel der Ausstellungsfläche im Museum für Fotografie ist nun deutlich zu sehen, warum: Anknüpfend an das Neue Sehen, die Neue Sachlichkeit und Ideen aus dem Bauhaus drängten sich die Mitglieder mit einem fundamentaldemokratischen Auswahlprozess gegenseitig zu einer radikalen Ästhetik und einem rigorosen Abschied von der Nazizeit. Die Abzüge wurden hin und her geschickt, und erst, wenn alle Mitglieder ihre Zustimmung gegeben hatten, durfte ein Bild den Qualitätsstempel „fotoform“ bekommen und in einer Ausstellung gezeigt werden.

Der Begriff „Form“ im Namen kam nicht von ungefähr, die „fotoform“-Bilder waren oft abstrakt und formalistisch, setzten auf Kontraste und Details, ungewöhnliche Bildausschnitte, verwegene Perspektiven. Wind­stosser und seine „fotoform“-Kollegen experimentierten mit Lang- und Mehrfachbelichtungen, mit Sabattier-Effekt, Schadografie oder Fotomontagen.

Im Museum für Fotografie werden Bilder, die den „fotoform“-Stempel bekamen, neben durchgefallene Fotos platziert: Das Hinterhof-Bild mit dem traurig in die Kamera blickenden Mädchen fand keine Zustimmung, die nahezu abstrakte, kleine Bläschen schlagende Wasserlinie am Strand dagegen schon. Mit diesem radikalen Ansatz wurde „fotoform“ bei der ersten „photokina“ 1950 in Köln zur „Atombombe im Komposthaufen dieser Ausstellung“, zitieren die Ausstellungsmacher einen damaligen Kritiker.

Im Rest der Ausstellung, für die Kuratorin Stefanie Regina Dietzel das unfassbar umfangreiche Archiv von Windstosser mit mehr als 200.000 Aufnahmen auf insgesamt ungefähr 200 Bilder runterkochen musste, kann man nun sehen, das sich Windstosser diesen Ansatz, natürlich abgeschwächt, auch in seiner Gebrauchsfotografie bewahrt hat – obwohl er schon 1951 nicht mehr für „fotoform“ aktiv war und die Gruppe danach schnell zerfiel. Sowohl in seinen Industriefotografien als auch in den Städteporträts wie dem 1972 erschienenen Band „Berlin: teils teils“ ist der Einfluss der „fotoform“-Ideen zu erkennen.

Der Blick über die Straße des 17. Juli zum Brandenburger Tor, der Anhalter Bahnhof vor einer gläsernen Hausfassade, die Berliner Mauer, das Gewimmel auf dem Tauentzien. Das Porträt des – so viel Berlin-Klischee muss sein – lachenden Taxifahrers fällt heraus aus den Bildern, die in der Ausstellung aus dem Westberlin-Buch „Berlin: teils teils“ zu sehen sind. Auch Stuttgart wird zu einer Stadtlandschaft mit Menschen, die sich der urbanen Sachlichkeit unterordnen müssen. Selbst die Sonne, die die Aufnahmen aus Italien durchleuchtet, ist vor allem eine, die große Kontraste liefert.

Noch deutlicher wird der Wille zur Abstraktion ­allerdings in den Industriefotos. Der Produktionsprozess von Arzneimitteln bei Merck wird zum Experiment mit geometrischen Formen und harten Schwarz-Weiß-Kontrasten. Die rauchenden Schornsteine der Kupferhüte Duisburg sind eine – zumindest aus heutiger Sicht – dystopische ­Industrielandschaft.

Eine Papierfabrik erinnert bei Windstosser an „Metropolis“

Die Spezialpapierfabrik Schoel­ler & Hoesch erinnert an die apokalyptische Unterstadt aus Fritzs Langs „Metropolis“. In der Serie über die Papier- und Kartonagenfabrik Scheufelen wird das Holzlager zum irrealen Labyrinth oder Papierstapel zur ungegenständlichen Installation, ja nahezu zum babylonischen Turmbau. Beim Textilhersteller Lauffenmühle wiederum badet Windstosser in Farben, lässt die grauen Arbeiterinnen von buntkarierten Stoffbahnen fast verschlucken.

Aber der Fotograf stand im Dienste seiner Auftraggeber, und das ist auch zu sehen: Der schwarze Schattenriss eines Mannesmann-Arbeiters, den Blick zum Himmel erhoben, vor orangerot glühenden Stahl­kuben, ist ein abstraktes Spiel mit Farben und Kontrasten, stilisiert den Werktätigen aber ebenso zum Heroen wie das Abbild eines Kumpels tief im perfekt ausgeleuchteten Stollen, der scheinbar – ohne groß Schweiß zu vergießen – die Kohle aus dem Berg bricht.

So viele Meta-Ebenen man aus heutiger Sicht auch in sie hineininterpretieren möchte – diese Fotos bilden nicht zuletzt die Aufbruchstimmung einer Nachkriegsgesellschaft ab, die ihre jüngste Vergangenheit schnell verdrängt und den Nationalsozialismus dankbar für die neue Fortschrittsideologie eingetauscht hat.

In der Folge hält Windstosser, indem er Arbeitsabläufe und Produktionsanlagen dokumentiert, eben nicht nur fest, wie sich die Wirtschaft in den Jahrzehnten nach dem Krieg entwickelt, sondern auch wie der Glaube an die Modernität zusehends das Bewusstsein verändert. „Am Anfang geht es meist um den Mensch im Zusammenspiel mit der Technik“, erklärt Derenthal, „später übernimmt die Technik immer mehr.“ Tatsächlich wird der Mensch, der einstige Held der Arbeit, in den Aufnahmen aus den siebziger und achtziger Jahren degradiert zum barock anmutenden Ornament in den futuristischen Kontrollräumen, in denen er nun sein Geld verdient.

Es sind solche Bilder, die von einer vergangenen Zeit mehr erzählen, als sie zeigen. Bilder, die beweisen, dass Windstosser weder bloßer Dokumentarist noch gewissenloser Ästhet war – und dass er zu Unrecht vergessen worden ist.

Ludwig Windstosser. Fotografie der Nachkriegsmoderne, noch bis 23. Februar, Museum für Fotografie, Jebensstr.2, Charlottenburg, Di.–So- 11–19 Uhr, Do. 11–20 Uhr, Katalog 25 €