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Archiv-Artikel

Dell und ich

LITERATUR Vom Ganzen eines Lebens erzählen – über Richard Fords neuen, großen Roman „Kanada“

Der Autor der Frank-Bascombe-Trilogie

■ Richard Ford, 1944 geboren, wurde mit seiner Trilogie um den amerikanischen Jedermann Frank Bascombe weltberühmt: „Der Sportreporter“ (1986), „Unabhängigkeitstag“ (1995), „Die Lage des Landes“ (2007).

■ Anekdote: Nach Roland Emmerichs gleichnamigen Kinoreißer schnellte der Verkauf von Fords „Unabhängigkeitstag“ in die Höhe. Die Leute hielt es für den Roman zum Film.

■ Der neue Roman „Kanada“ erscheint an diesem Wochenende im Hanser Berlin Verlag. Aus dem Amerikanischen von Frank Heibert, 466 Seiten, 24,90 Euro.

VON DIRK KNIPPHALS

Worum es geht, ist zunächst ganz klar. Der Roman handelt von einem amerikanischen Jungen, Dell, 15, der in Schwierigkeiten steckt. Seine Eltern (normale Leute eigentlich; der Vater abgemusterter Soldat, weshalb die Familie viel umziehen musste, die Mutter wollte ehemals Gedichte schreiben) überfallen irgendwann eine Bank und werden bald darauf verhaftet; das beschreibt Richard Ford im ersten Teil. Im zweiten Teil wird Dell nach Kanada gebracht, um ihn dem Zugriff des Jugendamts zu entziehen; ohne eigenes Verschulden gerät er an zwielichtige Menschen und wird sogar in einen Doppelmord verstrickt.

Schließlich gibt es noch einen kurzen dritten Teil, in dem klar wird, dass Dell, der das alles fünfzig Jahre später als pensionierter Lehrer selbst aufschreibt, trotz dieser widrigen Startbedingungen ein normales Leben geführt hat. Während seine Zwillingsschwester Berner das nicht gut hinbekam. Der Rest in „Kanada“ sind eine eindringliche Erzählstimme, großartige Beschreibungen der Verlorenheit in den Weiten der USA und Kanadas sowie genau eingefangenes Zeitkolorit um 1960 herum.

Dann stößt man beim Lesen aber immer wieder auf Sätze, die eine zweite Ebene einziehen. „Komposition ist das Arrangieren ungleicher Teile“, heißt es an einer Stelle. „Ereignisse, die das ganze Leben verändern, sehen nicht danach aus“, an einer anderen. Der Ich-Erzähler spricht hier, jemand, der von seinen Erfahrungen berichtet, wie es ist, aus diesem Wirrwarr an Handlungen, Motiven und Beobachtungen eine halbwegs zusammenhängende Lebensgeschichte zu erzählen.

Außerdem gibt es in „Kanada“ diese typischen Richard-Ford-Szenen, die in sich vollkommen realistisch und zugleich ins Symbolische überhöht sind. Viele dieser Szenen sind mindestens so gut wie diese Stellen aus seinem großen Klassiker „Unabhängigkeitstag“, dem Herzstück seiner Frank-Bascombe-Trilogie, die einen nach dem Lesen nicht mehr verlassen. Etwa die Stelle, in der Frank Bascombe, nachdem er seine literarischen Ambitionen längst begraben hat, in einem Provinzhotel auf eine vergriffene Ausgabe seiner frühen Erzählungen stößt und erschütternd feststellen muss, dass sie niemals gelesen und als pure Dekoration mit anderen Büchern zusammen zum Kilopreis verkauft wurde. Oder wie in einer anderen Szene sein Sohn beim Baseballüben einen Ball hart an den Kopf bekommt und es beim Lesen magenumdrehend klar wird, wie schrecklich es sich anfühlen muss, wenn seinem Kind ein schwerer Unfall wirklich passieren würde.

Genauso dringlich ist in „Kanada“ erzählt, wie der Vater, kurz bevor er verhaftet wird, mit seinen Kindern noch einen Autoausflug macht. Dell findet aus Versehen im Polster des Rücksitzes das gestohlene Geld, ist vollkommen verdaddert und stopft es heimlich wieder zurück. Ein Wagen verfolgt sie die ganze Zeit; die Polizei. Und inmitten dieser diffus bedrohlichen Szenerie will der Vater seinen Kindern ein paar Lebensweisheiten mit auf den Weg geben, was bei denen aber gar nicht ankommt (oder doch irgendwie ankommt, weil die Szene ja ein halbes Jahrhundert später von Dell erzählt wird, aber erst sehr verspätet).

Der Vater: „Ich möchte nur, dass ihr Kinder eine wichtige Lektion lernt. Manche Dinge muss man akzeptieren und verstehen – auch wenn sie anfangs weder sinnvoll noch vernünftig erscheinen. Ihr müsst ihnen einen Sinn geben. So machen es die Erwachsenen.“ Nächster Satz: „ ‚Dann entscheide ich mich lieber gegen das Erwachsenwerden‘, sagte Berner verächtlich.“ Die ganze Hilflosigkeit des Elternseins ist in dieser Szene, wie auch das Aufbegehren der sechziger Jahre (Berner wird Hippie werden, Drop-out) und eben noch etwas: Wie es dann doch erzählend gelingen kann, aus so einer Familiengeschichte, zumindest aus dem Abstand von fünfzig Jahren heraus, etwas zwar nicht Rundes, aber doch Geordnetes zu machen.

Um dieses Ordnen durch Erzählen geht es auf der zweiten Ebene. Wichtig ist allerdings, dass der Sohn das „Sinn geben“, das sein Vater fordert und seine Schwester verweigert, als Erzähler nicht einfach brav ausführt. Der Zusammenhang, den er erzählend herstellt, hat stets etwas Zusammengebasteltes, und das ist ihm klar. „Wenn man lange darüber nachdenkt, warum zwei einigermaßen intelligente Menschen beschlossen, eine Bank zu überfallen, und warum sie zusammenblieben, nachdem ihre Liebe schon verbraucht und verweht war, dann kommt man immer auf irgendwelche Gründe, die man rückblickend nicht mehr nachvollziehen kann und deshalb erfinden muss“, heißt es irgendwo. Und an wieder einer anderen Stelle puzzelt der Vater und isst aus Übermut ein Teil auf. Der Sohn hält das zunächst für einen Trick, aber der Vater hat es wirklich verschluckt. Das Puzzle wird nie mehr ganz werden.

In einem Nachwort zu einer Neuausgabe von Richard Yates’ Klassiker „Zeiten des Aufruhrs“ hat Richard Ford an Yates gerade dessen zugleich realistisches – wie aus der Sicht eines Insektenforschers geschrieben – wie symbolisch überhöhtes Schreiben hervorgehoben und seinen Effekt beschrieben: „er [Yates] hat uns – mit Hilfe der Kunst – die Details des Lebens so greifbar nahegebracht, dass wir unser eigenes Leben darin wiedererkennen können, hat uns aber zugleich die Distanz mitgeliefert, aus der wir unser Urteil fällen und erleichtert sein dürfen, dass wir nicht sind wie die Wheelers“. (Die Wheelers sind, in der Verfilmung von Kate Winslett und Leonardo DiCaprio gespielt, die Hauptfiguren in „Zeiten des Aufruhrs“.)

Das Gleiche lässt sich über „Kanada“ sagen, aber eigentlich erst auf der symbolischen Ebene, dass das eben auch ein Roman über das Erzählen ist. Auf der basalen Handlungsebene würde man sich nie in Dells Leben wiedererkennen, dafür ist es viel zu sehr Prärieland, Vor-68. Das macht „Kanada“ immer noch zu einem grandiosen Roman über ein fremdes Schicksal.

Was Menschen können

Aber ob man in diesem Roman etwas an sich Gerichtetes und Zeitgenössisches erkennt, entscheidet sich, glaube ich, auf der zweiten Ebene. Auf ihr geht es darum, ob man – mit Hilfe von Fords Kunst – in Dells Bewegungen des Erzählens und damit Formens seines Lebens als Leser auch eigene Muster erkennt; ob man merkt, dass die Distanz mitgeliefert wird, erleichtert zu sein, dass man solche Lebenskatastrophen dann doch nicht zu einem halbwegs Ganzen arrangieren muss; und vor allem, ob man neben dem Aufruhr dagegen, alles zu verstehen und zu akzeptieren, auch die Bedürftigkeit spürt, daraus dann eben doch etwas Zusammenhängendes zusammenzubasteln. (Wahrscheinlich hängt mit dieser Bedürftigkeit der Erfolg der neuen, epischen US-Serien zusammen, aber das ist eine andere Geschichte.)

Bei mir hat es funktioniert. „Kanada“ ist ein Hammerroman darüber, was Menschen können: sich aller Lebensunbill zum Trotz ihre eigenen Geschichten erzählen. Und ein Roman darüber, was Literatur kann: Dieses Erzählen dann wieder darstellen und zugleich reflektieren.

Von Deutschland aus wird die US-amerikanische Alltagserzähltradition ja oft unter „schlichter Realismus“ verbucht, aber das ist zu undifferenziert. Bücher über das Erzählen sind auch die vorangegangenen Romane von Richard Ford gewesen. Nur waren sie es noch nicht so konzentriert, da durch Gegenwartsbeschreibung abgelenkter. „Ich habe immer geglaubt, dass Worte die meisten Dinge besser machen können, und es gibt nichts, was man nicht verbessern könnte. Aber man muss die Worte finden“, heißt es in „Unabhängigkeitstag“. Wahrscheinlich formulieren diese Sätze, durch die Rollenprosa hindurch, eine Art Kern des Schreibens von Richard Ford.

Bei „Kanada“ zitierten viele US-Besprechungen und deutsche Vorabporträts den ersten Satz des Romans; und der ist auch echt gut. Aber im Zusammenhang mit der Notwendigkeit, Worte zu finden, sollte man unbedingt den Schluss bringen. Er lautet: „Wir versuchen es. Wir alle. Wir versuchen es.“