Ausgehen und rumstehen von Volker Bernhard
: Sag, wie hält man sich eigentlich an der Liebe fest?

Ich hatte gerade ein Buch über lesende Leute gelesen und mir steckte die unerträgliche Erholung von sieben Tagen mitteldeutscher Provinz in den Knochen – mein großstädtisches Verspanntheitsniveau war bedenklich abgesunken, ich musste mal wieder raus unter die Leute. Doch mit der Gesellschaft war es dieser Tage gar nicht so einfach: Menschen sind bereits bei ihrer Familie zwecks Weihnachten, machen fleißig Kinder oder kümmern sich um die soeben ausgebrüteten. Auf F. hingegen war wie immer Verlass. Wir diskutierten die letzten Tage und schwiegen von der Sozialdemokratie – wir nahmen uns selbst nicht wichtiger als unser gemeinsames Gespräch.

F. hatte die Tage seinen dreijährigen Bruder G. behütet. Dem Schweigen setzte er Ton Steine Scherben entgegen. G. lauschte, dann fragte er zunächst: „Was ist Liebe?“ F. nahm seinen pädagogischen Mut zusammen und veranschaulichte das Mysterium mit Mama und Papa, G. lauschte andächtig. Dann schob er ganz folgerichtig nach angemessener Bedenkzeit hinterher: „Du F., wie hält man sich an seiner Liebe fest?“

Zum Late Brunch hielten wir uns zunächst an einer wirklich wertigen – da ungemein knusprigen und zugleich fluffigen – Tiefkühlpizza fest. F. sah sich YouTube-Videos an und auch ich strafte die ach so kostbare Zeit mit ein bisschen Lesen und viel Verachtung. Abends bekam ich dann einen Käsespätzleworkshop bei zwei sehr kostbaren Menschen, die im Moment selten ausgehen und rumstehen, da sie eher in der eigenen Wohnung mit Tragebeutel umherflanieren.

Ich stolperte ungut mit Fett und Kalorien befüllt, also standesgemäß realitätsverschoben, den Gehsteig entlang und sackte F. in der Wiener Straße ein. Wir schlenderten eine Dreiviertelstunde zu dieser verlässlich umwerfenden, monatlichen Party in einer Bürobaracke hinterm Estrel. Neukölln ist dieser Tage so leer wie sonst nur während der Fusion. Dann ist es dort eigentlich ganz aushaltbar. Und nun war ich also doch ausgegangen: Ich stand kurz mittellässig rum, bevor ich mein Sakko in einer Europalette verstaute. Dann passierte unter diesen unerklärlich gut gelaunten Menschen bis zum Sonnenaufgang, was dort halt so passiert.

Nach einem auf merkwürdige Weise angenehm kurzen Schlaf traf ich am Sonntag J., die ich bis dato überhaupt nicht kannte. Sie schleppte mich zu einer Galerie in einer Charlottenburger Altbauwohnung – die wenigen Stücke waren schnell begutachtet. Ich hatte leider die 595 Euro (inklusive Mehrwertsteuer) für mein Lieblingsstück – einen surreal verspulten Alltagsgegenstand – vergessen, und so trotteten wir von dannen. Am Montag sprengte M. kurz vor Mittag mit seiner Geschichte mein anscheinend zuweilen verkommenes Menschenbild.

Er war dann auch noch auf besagter Party aufgekreuzt, verließ sie jedoch mit einer Jacke, die wie seine aussah, aber viel zu sauber und viel zu groß war. Auch der Schlüssel fehlte. Sie ahnen es: der Klassiker der Verwechslungskomödie. M. schrieb also den Club an, der ihm die Nummer jener Dame schickte, die den Tunichtgut abgeschleppt hatte. Die gab M. den ersehnten Kontakt, und dieser meldete sich sofort mit froher Kunde, dass er in einer Stunde nach Amsterdam aufbrechen müsse. Weil M. aber im fernen Moabit auf der Arbeit weilte, schickte er ihm nun also flugs seine Adresse, und so tauschte dieser brav nur die Jacken aus und hinterließ den Schlüssel. Einfach unfassbar.