: Träumende Kommunisten
Stefan Pucher inszeniert in der Volksbühne mal in der distanzierten Haltung eines Insektenforschers und mal mit liebevoller Ernsthaftigkeit Ronald M. Schernikaus epochalen West-Ost-Roman „legende“
Von Tom Mustroph
Am Ende sind wir im Kinderladen, in einem wohl eher roten. In einer Videoprojektion taucht Ronald M. Schernikau auf. Als zarter, fragiler Jüngling stimmt er ein Lied aus seiner Kindheit an. Um den schnöden Alltag der Kriege und Siege geht es darin, aber auch um den alten und starken Traum vom Frieden.
Schernikau ist lange schon tot, 1991 in Berlin an Aids gestorben. Als Autor wird er gerade wiederentdeckt, dank des Mammutwerks „legende“. Mehr als 1.000 Seiten mit Anmerkungen und Nachwort lang, beherbergt es ein Figurenarsenal aus Fabrikanten und Göttern, Proleten und Agitatoren. Es lässt die späten 1980er Jahre in West- und Ostberlin auferstehen, aus einem schrägen Blickwinkel freilich: dem einer kommunistischen Splittergruppe im Westen. Das trägt durchaus biografische Züge; Schernikau wurde zwar im Osten geboren, wuchs nach der Flucht seiner Mutter in den Westen aber bei Hannover auf, schloss sich kommunistischen Gruppen an und siedelte im Jahr 1989, kurz vor dem Mauerfall, offiziell in die DDR über.
Schernikau, der schwule Künstler und Kommunist, wusste, worüber er schrieb. „legende“ verfasste er in der für die 1980er Jahre recht typischen Kleinschreibung. Formal ist das Buch eine Hybride aus Alltagsbeobachtungen, Nachrichtenfetzen und biografischen Einsprengseln. Die Protagonisten werden oft mit Szenenanweisungen an- und abmoderiert.
Das lädt zu einer Bühnenfassung ein. Stefan Pucher war der Schnellste. In der Volksbühne teilt er Ost und West nach Biermarken auf: „Schultheiss“ klebt am linken Bühnenrand, „Wernesgrüner“ am rechten. Das Portal klettert der Schriftzug „Drueben“ hoch. Was von wo „drüben“ ist und was „hüben“, wechselt beim Grenzgänger Schernikau natürlich. Was nicht wechselt, was der rote Faden von Buch und Inszenierung ist, ist die Suche nach Frieden, Gerechtigkeit und Glück sowie die verzweifelte Erkenntnis, dass all das nur schwer zu erreichen ist.
Vier verschiedene Aufklärungsklubs hat Pucher aus „legende“ herausdestilliert und lässt sie dem Traum vom Sozialismus nachjagen. Vom Bühnenhimmel seilt sich eine vierköpfige Göttergruppe ab, ein Funktionärsexpeditionskorps, modelliert nach der Schauspielerin Therese Giehse, dem mit ihr eine Zeit lang befreundeten Schriftsteller Klaus Mann, der RAF-Mitgründerin Ulrike Meinhof und dem kommunistischen Funktionär Max Reimann.
Es ist eine ziemlich bunte Schar, künstlerisch und politisch aktiv, sexuell divers veranlagt. Sie schweben hernieder, um die Flamme der Gerechtigkeit, die bei den Menschen verglimmt scheint, wieder zum Lodern zu bringen.
Ein wenig entzündet immerhin ist sie bereits in janfilipp geldsack (Sebastian Grünewald), einem Schokoladenfabrikerben, der an seinem ganzen Reichtum verzweifelt und viel dafür tut, die seine, die Geldsack-Klasse abzuschaffen. Die Flamme lodert stark bei der kommunistischen Chefagitatorin lydia königin (Katharina Marie Schubert). Die Brennkraft der Flamme ist allerdings begrenzt; lydia königin weiß schon beim Infostand-Aufbauen, dass wieder niemand kommen wird und die 5-Prozent-Grenze bei den Wahlen verpasst wird. Und als VEB-Schokoladenproduzent legt herr lange (Robert Kuchenbuch als Honecker-Imitator) eine famose Rede zu den Errungenschaften des DDR-Sozialismus hin, also Wohnung und Arbeit und ähnlichen Dingen.
Über die ersten zwei Stunden führt Pucher diese Gestalten wie seltene Insekten vor. Wie aufgespießt stehen sie auf der Bühne. Die Auf- und Abtritt-Ansagen kreieren eine didaktische Lehrstückatmosphäre.
Nach der Pause zieht die gesamte Belegschaft dann in ein besetztes Haus. Es gehört geldsack, der incognito darin wohnt und sich den Traum vom freien Leben erfüllt. Und endlich wird es wilder. Die Band, die zuvor nur als atmosphärisch eingesetzt war, darf in die Vollen gehen. Kontaminiert bleibt das Ausbruchsglück freilich durch die elenden Bedingungen – und dadurch, dass die Besetzer nur Komparsen der Ausstiegsinszenierung von geldsack sind.
In die Wirklichkeit entlassen wird man dann mit dem Friedenskinderlied Schernikaus – eine Naivität, die zu Herzen geht, auch wegen der eigenen Ideale, die so fern scheinen wie die 1980er Jahre. „legende“ erinnert an alte Kämpfe und neue Niederlagen. Wessen Aufmerksamkeitspanne noch nicht postmillennial zerborsten ist, wird diese Zeitreise trotz der zwei zähen Anfangsstunden schätzen.
Wieder am 20. 12., Volksbühne
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