„Wir müssen träumen“

Der argentinische Künstler Tomaś Saraceno über die Intelligenz von Spinnen, über das Fliegen mit Sonnenwärme und über Kommunikation durch Netze in seiner Ausstellung „Algo-r(h)i(y)thms“ bei Esther Schipper

Tomás Saraceno, „Algo-r(h)i(y)thms“, Ausstellungsansicht Foto: Esther Schipper

Interview Beate Scheder

taz: Herr Saraceno, in Ihrer Ausstellung bei Esther Schipper bewegt sich das Publikum durch eine Installation aus Spinnennetzen, die durch Berührung zu klingen beginnt. Sie selbst werden demnächst auf andere Weise mit Spinnen in Kontakt treten. Was haben Sie vor?

Tomás Saraceno: Ich reise nach Kamerun und werde dort auf dem Mambilla-Plateau einem Ritual beiwohnen. Dabei werden Spinnen nach der Zukunft befragt.

Wie geht das?

Der Spinne, die in einem Loch unter der Erde wohnt, werden Fragen gestellt. Dazu wird ein Set von rund 100 Karten ausgelegt, in die verschiedene Symbole eingeritzt wurden. Ein wenig wie bei Tarot. Die Spinne wird herausgelockt, und die Art und Weise, wie sie die Karten bewegt, wird interpretiert und ergibt die Antwort.

Was sind das für Fragen?

Normalerweise solche, die mit Ja oder Nein beantwortet werden können. Einige Stämme benutzen das Orakel auch, um sich zu organisieren. Wenn fünf Spinnen sagen, eine Person sei des Diebstahls schuldig, kommt sie ins Gefängnis.

Interessantes Konzept von Gerechtigkeit.

Im Zeitalter des sechsten Massenaussterbens, in dem das Verhalten einiger Menschen viele andere Lebewesen bedroht, sollte man diesen Vorwurf lieber denen machen, die nicht verstehen, wie alles zusammenhängt. Das ist natürlich eine Provokation.

Sie haben auch selbst ein Spinnenorakel entwickelt, in App-Form. Worum geht es in Arachnomancy?

Viele Menschen, die meine Ausstellungen gesehen haben, betrachten Spinnennetze hinterher mit anderen Augen, sehen, wie schön sie sind. Darum geht es mir: Ich will den Leuten bewusst machen, was um sie herum geschieht, die Trennung zwischen Menschen und anderen Lebewesen ein wenig auflösen. Zum Beispiel in der App in Bezug auf Spinnen. Spinnen sind prähistorische Tiere. Wir sollten sie mehr achten und ihr Wissen anerkennen. Wenn wir wissen wollen, wie das Wetter wird, googeln wir heute, dabei könnten wir auch einfach Spinnen beobachten. Die App funktioniert über Vibration. Sie lässt das Telefon in der Frequenz einer Mücke oder einer Grille vibrieren. Darauf reagiert die Spinne und bringt das Netz in Schwingung, die wiederum gelesen wird, und man erhält quasi eine SMS von der Spinne.

Woher kommt überhaupt Ihr Interesse an Spinnen?

Hauptsächlich faszinieren mich die Netze. Heutzutage denken einige Menschen, sie könnten ihr Leben unabhängig vom Rest des Planeten denken. Das Spinnennetz steht für mich für die Idee von Konnektivität, für die Idee eines Netzes des Lebens, das Menschen und andere Lebewesen wieder miteinander verbindet.

In Ihrem Studio haben Sie ein Laboratorium für Spinnen. Wie halten Sie die Tiere dort?

Ich würde sagen, sie halten mich! Die Spinnen gehören mir nicht, ich arbeite mit ihnen zusammen. Sie sind schlauer als wir. Sie leben schon länger als wir auf diesem Planeten und werden uns auch überleben.

Woher stammen die Spinnen?

Viele waren schon im Gebäude, als ich ankam. Andere habe ich von befreundeten Spin­nen­forscher*innen verschiedener Disziplinen. Wir arbeiten oft disziplinübergreifend.

Das trifft auch auf Ihr Projekt Aeroscene zu. Darin forschen Sie über eine andere Form des Fliegens, bei dem durch die Wärme der Sonne luftgefüllte Ballons mit dem Wind Distanzen überwinden können. Wie weit sind Sie damit?

Ich bin total begeistert, kann aber momentan noch nicht darüber sprechen. Sehr bald, Anfang Januar, wird in Argentinien etwas passieren. Etwas Großes.

Ein Flug?

Vielleicht.

Foto: Alfred Weidinger

Tomás Saraceno, geboren 1973 in Tucumán, Argentinien, lebt und arbeitet in Berlin. In seiner Praxis verknüpft er Kunst, Bio- und Sozialwissenschaften. Momentan ist in der Galerie Esther Schipper seine dritte Einzelausstellung zu sehen. „Algo-r(h)i(y)thms“ läuft noch bis zum 21. 12., Di.–Sa. 11–18 Uhr, Potsdamer Str. 81E.

Wie lange arbeiten Sie schon an Aeroscene?

Mein ganzes Leben. Wir vergessen es immer, aber wir fliegen immerzu um die Sonne, auf einem Planeten, der sich Erde nennt. Wir nehmen das gar nicht mehr wahr, die Rhythmen, die Rotation, die kosmischen Kräfte. Aeroscene baut darauf auf und lässt Körper mithilfe der Sonne in der Luft treiben. Ganz ohne fossile Brennstoffe.

Das klingt wie ein Traum.

Wir müssen träumen. Mit offenen Augen. Nur so können wir die Realität verändern.

Als Künstler fliegen Sie oft auf herkömmlichem Weg um die Welt. Wie vereinbaren Sie das mit Ihren Ideen?

Wir diskutieren das gerade. Ich bin zur kommenden Riga Biennale eingeladen. Wir haben die Windrichtungen gecheckt, und es scheint möglich. Der Wind weht normalerweise nach Litauen, zur russischen Grenze. Wir werden versuchen, eine Skulptur bis nach Riga in der Luft treiben zu lassen

Wie lange wird das dauern?

Wahrscheinlich werden wir abhängig vom Wind zwei Stopps machen. Einen in Polen nach etwa sechs Stunden. Von dort wird es noch etwa vier Stunden bis Riga dauern.

Gar nicht mal so lange. Wie funktioniert das? Der Wind kann sich doch drehen …

Wir haben eine Software entwickelt, die „Floating Predictor“ heißt und Vorhersagen aller weltweit vorhandenen Wetterstationen herunterlädt und auswertet. Wenn man zum Beispiel nach New York fliegen möchte, berechnet sie, wann innerhalb von 16 Tagen der beste Zeitpunkt dafür ist. Das ist ziemlich exakt. Wir haben es an einer Reihe unbemannter Flüge getestet, jetzt wollen wir es mit bemannten fortsetzen. Es wäre toll, auf diese Weise eine andere Art Meilen zu sammeln als die Scham-Meilen auf der goldenen Lufthansa-Karte. Wir müssen unser Wertesystem verändern.

Kann Kunst das schaffen?

Oft höre ich von Wissen­schaft­ler*innen, dass sie gerne mit mir und meinem Studio zusammenarbeiten, weil wir andere Fragen stellen. Wir müssen alle anders arbeiten, die Wissenschaft, die Kunst, die Soziologie, die Psychologie. Wir müssen Wege finden, zu kooperieren, unser Wissen zu teilen und uns neu zu vernetzen.

Momentan sprechen alle über das Klima, auch in der Kunst. Wie kann verhindert werden, dass Kunst, die sich damit auseinandersetzt, nur ein Trend ist?

Indem wir immer weiter darüber sprechen und Fragen stellen. Laut und miteinander. Nachhaltigkeit funktioniert nur gemeinsam mit anderen. Sie basiert auf sozialen Beziehungen, Solidarität und Verantwortungsgefühl füreinander. Und das alles nicht nur in Bezug auf Menschen, sondern auch auf Spinnen und andere Spezies.

„Nachhaltigkeit funktioniert nur gemeinsam mit anderen. Sie basiert auf sozialen Beziehungen“

Wie halten Sie es in Ihrem Studio mit der Nachhaltigkeit?

Wir haben eine Studie über den ökologischen Fußabdruck unseres Studios gemacht. Dabei kam heraus, dass das ­Problem weniger meine eigenen ­Reisen sind als der Transport ­meiner Kunstwerke. Ich ver­suche daher nun mit Galerien und Sammler*innen auszuhandeln, dass sie ein wenig mehr Geduld aufbringen und diejenigen, die etwas gekauft haben, länger auf die Kunstwerke warten.

Sodass Sie diese mit Schiffen transportieren können?

Oder mit einem Segelboot. Das dauert länger. Wir sind daran gewöhnt, dass alles morgen schon da sein muss. Davon müssen wir wegkommen.

Haben Sie den Transport per Segelboot schon ausprobiert?

Wir bekommen unseren Kaffee mit einem Segelboot aus Nicaragua geliefert, und wir ­schicken jetzt „Museo Aero Solar“ – eine Skulptur aus gebrauchten Plastiktüten – mit einem Segelboot nach New York. Es gibt zwei Frachtunternehmen die per Segelboot liefern. Mit denen werden wir zusam­menarbeiten. Und irgendwann können wir Aeroscene benutzen und damit den Ozean über­queren. Ich würde das gerne auch Greta Thunberg anbieten.

Haben Sie sie schon kontaktiert?

Noch nicht.