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Archiv-Artikel

Es gibt noch Schätze zu heben

MAUERFALL „Vùng biên gió’i“ von Rimini Protokoll am Staatsschauspiel Dresden handelt von Grenzgebieten, zwischen Ost- und Westdeutschland und zwischen Nord- und Südvietnam

Nguyen Van Loi, der wegen sieben Stangen Zigaretten eines Winters vier Stunden mit Handschellen an einen Zaun in Berlin-Buch gefesselt war

VON CHRISTIANE KÜHL

Helmut Kohl trägt unter Vietnamesen den erstaunlichen Beinamen „Vater des goldenen Regens“. Das ist kein Tribut an Frank Zappa oder den „Golden Shower“ als solchen, aber wohl an des Altkanzlers Potenz: Ist er doch der Mann, der die Kisten-Geschichte machte. Bis 1989 durften vietnamesische Arbeiter in der DDR von ihrem Ersparten nur eine Ein-Kubikmeter-Kiste mit Waren bepackt in die Heimat schicken, danach sandten sie Geld. West-Mark. Ansonsten war der Mauerfall auch schön, machte aber eigentlich nur alles komplizierter. Höflich ausgedrückt, denn tatsächlich verloren die ausländischen Werktätigen von einem auf den anderen Tag ihren Aufenthaltsstatus.

60.000 sogenannte vietnamesische Vertragsarbeiter lebten Ende der Achtzigerjahre in der DDR, etwa 15.000 davon in Dresden. Vier von ihnen stehen derzeit in einer Produktion von Rimini Protokoll auf der Bühne, gemeinsam mit drei jungen Vietnamesinnen, die in Tschechien aufgewachsen sind, und einem früheren deutschen Oberst, der laut eigener Formulierung „das Grenzgebiet der DDR viele Jahre aktiv mitgestaltete“. „Vùng biên gió’i“, Grenzgebiet, heißt auch die Produktion, die nach der Premiere am Staatsschauspiel Dresden ans Nationaltheater Prag wandert. Dabei geht es um Grenzgebiete im Plural: zwischen Ost- und Westdeutschland, zwischen Nord- und Südvietnam, zwischen der BRD und Tschechien. Natürlich geht es auch um die Überwindung von Grenzen, um ihre unüberwindbaren Reste und darum, wie viel ein Mensch in einem Leben um Himmels willen eigentlich aushalten kann.

Auf der Bühne von Simeon Meier stehen bunte Plastikhocker, Bambus aus Porzellan, Orchideen und zwei Stände mit gefakten US-Army-Klamotten. Die Regisseure Helgard Haug und Daniel Wetzel haben in Berlin-Lichtenberg und Prag auf vietnamesischen Märkten recherchiert, wo sie auch ihre jungen Darstellerinnen casteten. Die angehenden Studentinnen arbeiten dort als Aushilfen ihrer Eltern. Neben Vietnamesisch und Tschechisch sprechen sie Englisch und beschämend gut Deutsch, gelernt von Einkaufstouristen. So souverän, dass sie sich Ironie leisten können: „Europäische Hunde stinken. Aber vietnamesische: lecker-lecker!“

Den älteren Herren fällt die Selbstdarstellung offensichtlich schwerer. Kein Wunder: 30 Jahre hat sich kein Schwein in diesem Land für sie interessiert, und nun holt man sie ins Staatstheater. Rimini Protokoll arbeiten wie immer mit Laien, die sie als Experten des Alltags vorstellen, doch scheint deren Situation diesmal anders. Weil sie nicht ihre Expertise in einem Beruf, Hobby oder Wissensgebiet als Protagonisten qualifiziert hat, sondern ihre Biografie. Krieg in Vietnam, Aussendung in die DDR, Arbeit im VEB, Eintritt in die Selbstständigkeit, legal oder illegal.

Nicht um einen Teil geht es, den man auch als solchen ausstellen kann, sondern es geht gleich ums Ganze. Das ist ein großer emotionaler Aufwand, besonders, weil dieses Ganze in einer Aufführung notwendigerweise auf Ausschnitte reduziert wird. Formal gelingt das nicht immer – ein Quiz mit Fragen wie „Wer hat die meisten Bomben gesehen?“ beispielsweise kommt etwas hilflos daher. Retten sich die Protagonisten dagegen ins Singen vietnamesischer Volkslieder, entstehen unvermittelt Ahnungen von einem ganz anderen Leben.

Das andere als Teil unserer Geschichte vorzustellen, ist die Stärke des Projekts. Weil man realisiert, dass schon der Begriff „unsere Geschichte“ nicht stimmt, nicht einmal jetzt, in der 89-We-made-it-Euphorie. Phung Hang Thanh war auch auf den Montagsdemos. Und was sagte man Nguyen Van Loi am Checkpoint, als er am 9. November wie alle von Ost nach Westberlin wollte? „Du nicht.“ Solche Widersprüche sind anscheinend bis heute zu delikat, um thematisiert zu werden, denn selbst in „Vùng biên gió’i“ darf der frühere Oberst, der später die Betreuung der ausländischen Werktätigen im VEB Herrenmode Dresden übernahm, von „unseren Vietnamesen“ reden, die sich „durch Fleiß und außerordentliche Fingerfertigkeit bald vollwertig integrierten“. Und niemand widerspricht, obwohl Integration nicht stattfand, da sie von oben verhindert wurde und unten „Lohndrücker“ verhasst waren.

„Ich schreibe einen Roman. Immer mal zwei oder drei Seiten. Das ist wie Schmuggelware verstecken,“ verrät Nguyen Van Loi gen Ende der Aufführung, nachdem wir erfahren haben, dass er wegen sieben Stangen Zigaretten eines Winters vier Stunden mit Handschellen an einen Zaun in Berlin-Buch gefesselt war. Literatur als Schmuggelware: Es gilt noch wahre Schätze zu heben.