berliner szenen: Keine Zeitung in Neukölln
Man muss schon gute Gründe haben, um die Welt am Sonntag zu lesen. Die Enthüllungen des Blattes über die Stasimitarbeit des neuen Verlegers der Berliner Zeitung sind so ein Grund. Darum ziehe ich am Sonntagmorgen trotz Ekelwetters den Mantel an und mache mich auf.
Beim Späti an der Ecke hat man seit meinem letzten Besuch umgebaut: Das Regal, das vor Kurzem noch mit Zeitschriften und Zeitungen voll war, ist nun voll mit Bierflaschen. Gedrucktes gibt es überhaupt nicht mehr, teilt der Besitzer mit: „Kauft keiner mehr.“ Also geht es weiter durch den Nieselregen. Die meisten Spätis in der Nachbarschaft haben geschlossen. Entweder man hält sich ans Sonntagsöffnungsverbot, oder man muss ausschlafen, weil man sich gestern Nacht nicht ans Sonntagsöffnungsverbot gehalten hat. Um zehn Uhr morgens dürfte in Nordneukölln das Geschäft auch nicht so gut laufen: Während auf der Weserstraße gestern um Mitternacht Remmidemmi war, ist hier heute so gut wie niemand unterwegs.
Die Spätis im Viertel, die offen sind, haben aber schon lange keine Zeitungen mehr. Auch der Zeitungskiosk auf der ersten Etage des U-Bahnhofs Hermannplatz hat sich in einen „Mini Market“ verwandelt. Als ich nach Zeitungen frage, sieht mich die Verkäuferin an, als wollte ich eine Schubkarre kaufen. Erst beim Büdchen in der zweiten Etage werde ich fündig, hier liegen noch alle Sonntags- und Wochenblätter aus. Kurz frage ich mich, ob sie vielleicht von den Dreharbeiten zu „Babylon Berlin“ übrig geblieben sind – der Bahnsteig hier ist Kulisse für eine Verfolgungsjagd in der Serie. Möglicherweise bin ich nach langer Sucherei nach einer Zeitung auch schon paranoid geworden, aber irgendwie habe ich das Gefühl, dass mich die Verkäuferin argwöhnisch ansieht, als ich meine Zeitung bezahlen will. Tilman Baumgärtel
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