: Rückkehr der Geschichte
Seit der großen Koalition der Sechzigerjahre heißt das Motto: Ankurbelung der Wirtschaft, Bekämpfung der Arbeitslosigkeit und Umverteilung – alles auf Pump
In der deutschen Parlamentsgeschichte sind große Koalitionen auf Reichs- und Bundesebene höchst seltene Erscheinungen und überhaupt erst dreimal aufgetaucht. 1923, in der Stunde der tiefsten Krise des Reiches angesichts von Ruhrbesetzung, Hyperinflation, Putschdrohungen von links wie rechts rettete ein solches Bündnis unter Ebert und Stresemann die Republik – mit genau jenen Mitteln, die ein Jahrzehnt später als Instrumente für den Untergang herhalten sollten: Notverordnungen, Ermächtigungsgesetze.
Nach dem SPD-Wahlsieg 1928 war eine neuerliche große Koalition unter Hermann Müller, dem letzten sozialdemokratischen Kanzler vor Willy Brandt, unvermeidlich. Beide Koalitionen waren in der SPD grässlich unpopulär, die Koalitionspartner verhasst. Beide Koalitionen hat die SPD-Fraktion daher zum frühestmöglichen Zeitpunkt wieder aufgekündigt. Besonders 1930 waren die Folgen fatal, begann damit doch die abschüssige Bahn der Hindenburg’schen Präsidialkabinette von Brüning zu Hitler.
Nach der totalen Niederlage des Dritten Reiches kehrte die große Koalition machtvoll zurück – auf Länderebene. In den ersten Nachkriegsjahren regierten nahezu überall in den Ländern der Westzonen Bündnisse aus SPD und neu gegründeter CDU/CSU – die alte, katholisch geprägte Zentrumspartei wurde hier eingeschmolzen in die Legierung einer gemischtkonfessionellen Volkspartei. Die Deutschen mochten diese Form des parlamentarischen Monumentalkompromisses – und mögen sie bis heute, wie jüngste Umfragen beweisen.
Einer mochte sie nicht: Konrad Adenauer. An einem strahlend sonnigen Augustsonntag stellte er 1949 in Rhöndorf, assistiert von Ludwig Erhard und Franz Josef Strauß – bei gutem Wein, gutem Essen – nach der ersten Bundestagswahl die Weichen in Richtung auf eine „bürgerliche“ Koalition. Klare Trennung zwischen Regierung und Opposition sei, so sein zentrales Argument, gerade in schwierigen Zeiten besser. Die tiefe Abneigung, die ihn mit dem SPD-Vorsitzenden Kurt Schumacher verband, auch die Kluft zwischen einer von CDU/FDP propagierten, auf Wettbewerb basierenden sozialen Marktwirtschaft und den planwirtschaftlich-dirigistischen Konzepten der SPD standen einer großen Koalition im Wege, selbst wenn in der Union von Anfang an Umverteilung und Sozialausgleich im Geiste der katholischen Soziallehre – nicht zuletzt bei Adenauer selbst – eine machtvolle Ergänzung darstellten. Das führte fortan zu einer verborgenen permanenten großen Koalition in der Sozialpolitik. Nahezu alle wichtigen sozialpolitischen Leistungsgesetze wie Lastenausgleich, betriebliche Mitbestimmung, Rentenreform, Kindergeld oder Lohnfortzahlung im Krankheitsfall sind während der vergangenen Jahrzehnte von Union und SPD gemeinsam beschlossen worden, egal, wer gerade regierte.
Für die SPD markierte die Entscheidung von Rhöndorf jedoch den Beginn einer 17-jährigen Oppositionszeit im Bund. Der bedeutendste, in der KPD geschulte strategische Kopf der Partei, Herbert Wehner, ging schließlich daran, das zu ändern. Sein Konzept: Regierungsfähigkeit beweisen als Juniorpartner der Union – in einer großen Koalition. Er begann bereits Mitte der Fünfzigerjahre Kontakte zur anderen Seite zu knüpfen. Nein, nicht zu Adenauer, der ihm tief misstraute. Wehner knüpfte Kontakte zu jüngeren, aufstrebenden CDU-Politikern. Als Kurt Georg Kiesinger, vormals NSDAP-Mitglied, 1957 seine Hoffnungen auf einen Kabinettssitz begraben, als Ministerpräsident nach Baden-Württemberg gehen „musste“, schickte Wehner ihm ein kurzes Telegramm: „Bonn ist ärmer geworden ohne Sie“. Das ist die eigentliche Gründungsurkunde der dritten großen Koalition.
Was Brandt und Bahr nach dem Mauerbau für die Ostpolitik formulierten, war längst schon Wehners innenpolitisches Programm: Wandel durch Annäherung – Annäherung an die Union. Deshalb sein eindrucksvolles „Plädoyer für eine gemeinsame Politik“ im Bundestag 1960, für ein Land, das „dauerhaft verfeindete Christ- und Sozialdemokraten nicht vertragen“ könne. Über die Abgeordneten Lücke und Guttenberg pflegte er weiter still Kontakte zur Gegenseite, trank manches Glas Wein mit dem Bundespräsidenten Lübke – der offen für eine große Koalition warb –, sicherte dessen zweite Amtszeit in der SPD. 1961 gab es erste Koalitionsverhandlungen mit der CDU; 1962, nach der Spiegel-Krise, Geheimgespräche, die sogar in ein Koalitionspapier mündeten. Allein, diesmal lehnte die SPD-Fraktion ab, mochte Adenauers Amtszeit nicht als Juniorpartner verlängern.
Erst als dessen Nachfolger Erhard an seiner Unfähigkeit, den Kabalen in der Union und der profilierungssüchtigen FDP scheiterte, schlug die Stunde der großen Koalition in der Bundesrepublik. Für die SPD bedeutete sie eine Zerreißprobe. Der Parteitag, auf dem das stark kritisierte Bündnis knapp abgesegnet wurde, fand erst anderthalb Jahre nach der Regierungsbildung statt. Wehner wurden trotzdem von erbosten Demonstranten zwei Zähne ausgeschlagen. Die linke außerparlamentarische Opposition (APO) wuchs – wie auch die NPD, die 1969 den Einzug in den Bundestag nur hauchdünn verfehlte.
Doch: Das neue Bündnis war hinter den Kulissen über Jahre hinweg vorbereitet – wovon heute keine Rede sein kann. Die führenden Köpfe in den 19 Ressorts von Wehner, der zum ersten und einzigen Mal selbst (als Gesamtdeutscher Minister) am Kabinettstisch Platz nahm, über Georg Leber, Gustav Heinemann bis hin zu Paul Lücke, Gerhard Schröder (CDU), Gerhard Stoltenberg kannten sich lange und harmonierten erstaunlich gut, abgesehen vom Spitzenduo – dem „wandelnden Vermittlungssausschuss“ Kiesinger und dem schmollenden Außenminister und Vizekanzler Brandt, der eigentlich schon damals lieber mit der FDP koaliert hätte, was rechnerisch möglich gewesen wäre.
Die wichtigsten Partner der Koalition formierten zusammen mit den beiden Fraktionsvorsitzenden Rainer Barzel (CDU) und Helmut Schmidt (SPD) den „Kressbronner Kreis“, der im Bodensee gemeinsam baden ging, und arbeiteten rasch ein beträchtliches Programm ab. Dazu gehörte die zunächst heiß umkämpfte, dann rasch völlig vergessene Verabschiedung der Notstandsgesetze, die Überwindung der ersten leichten Rezession in der Bundesrepublik, der Ausgleich eines um anderthalb Milliarden DM (!) unterfinanzierten Haushaltes. Zudem wurde jene Neuverteilung von Finanzmitteln – und Mitsprachemöglichkeiten – zwischen Bund und Ländern beschlossen, unter der heute das Land leidet. Nur die verabredete Einführung eines Mehrheitswahlrechts zur Ausschaltung rebellischer Zwerge wie der FDP kam nicht zustande. Hier folgte die SPD Wehner nicht, wollten manche sich doch diese Koalitionsoption für die Zukunft offen halten, falls „Genosse Trend“ einmal nicht mehr so munter marschierte.
Aber man täusche sich nicht: Mit dieser großen Koalition hält Keynes – den Lafontaine/Gysi und der DGB noch heute bemühen – Einzug in die deutsche Finanz- und Wirtschaftspolitik. Die „angebotsorientierte“ Politik des deficit spending beginnt mit „Plisch“ und „Plum“, Finanzminister Karl Schiller und Wirtschaftsminister Strauß. Die mittelfristige Finanzplanung (MiFriFi) und das neue Stabilitätsgesetz sorgen jedoch nicht für dauerhafte Stabilität, weder mittel- noch langfristig. Im Gegenteil: Das Tor in den Schuldenstaat wird machtvoll aufgestoßen durch diese große Koalition.
Willy Brandt durchschreitet es entschlossen, die Sozialstaatsinterventionisten beider Volksparteien werden freudig folgen. Ankurbelung der Wirtschaft, Bekämpfung der Arbeitslosigkeit und Umverteilung auf Pump – ohne jemals aufgenommene Schulden wieder zu tilgen – lautete fortan die Devise, der sich auch Helmut Kohl nach der Wiedervereinigung anschloss. Dass die ersten beiden sozialdemokratischen Finanzminister Möller und Schiller aus Protest dagegen zurücktraten – längst vergessen. Es wäre wirklich eine Ironie der Geschichte, wenn 2005 ausgerechnet eine gänzlich unvorbereitete, abgesehen von den Idealpartnern Horst Seehofer/Ulla Schmidt personell höchst labile große Koalition – wiederum mit sozialdemokratischem Juniorpartner – daran gehen sollte, die Sanierung der Staatsfinanzen sowie eine umfassende Föderalismusreform voranzubringen und damit genau jene Krisenentwicklung zu bekämpfen, an deren Beginn einst eine andere große Koalition gestanden hatte. DANIEL KOERFER