: Mit Kindern an die Spitze
AUS TÜBINGEN SANDRA LÖHR
Wie kann man eine Fruchtfliege genetisch so manipulieren, dass man mit deren Nachkommen forschen kann? Das fragte sich Christiane Nüsslein-Volhard vor zwanzig Jahren, und als sie die Antwort darauf gefunden hatte, bekam sie den Medizin-Nobelpreis. Heute, zehn Jahre später, denkt die 62-Jährige über eine ähnliche Frage nach. Doch es sind diesmal keine Fruchtfliegen, mit deren Nachwuchs sie die Steuerung von Genen erklären kann, sondern Menschen – begabte junge Frauen, die Karriere in der Forschung machen und trotzdem nicht auf Kinder verzichten wollen.
Die schwäbische Universitätsstadt Tübingen schmückt sich auf ihrer Internetseite mit Altstadt und Männern wie Hegel, Hölderlin und Bloch. Auf einem grünen Hügel hoch über der Stadt befindet sich das Max-Planck-Institut für Entwicklungsbiologie, deren Direktorin Christiane Nüsslein-Volhard ist. Aber bevor das Gespräch in ihrem Büro beginnt, holt sie sich noch schnell einen Kaffee am Automaten, vor dem eine Schlange wartet. Ganz selbstverständlich stellt sich die Frau mit den weißen kurz gelockten Haaren hinten an. Sie braucht keine Sekretärin, die ihr den Kaffee holt. Das kann sie selber. Kein Gehabe, um sich ihrer Autorität als Chefin und als immer noch einzige deutsche Frau mit einem Nobelpreis zu vergewissern. Dazu passt der Neubau, in dem das Institut seit kurzem untergebracht ist, und bei dessen Gestaltung sie mitgeredet hat. Von außen eine Art hölzerner Kubus, fest und doch durchlässig, von drinnen wirkt es dank einer großen Freitreppe luftig und großzügig. In die Decke ist viel Glas eingelassen, der Blick nach oben ist frei.
„Es geht nicht um Diskriminierung. Dagegen kann man etwas tun“, sagt sie nüchtern, nachdem ersten Schluck Kaffee, als wolle sie gleich klarstellen, dass ihr Engagement in Sachen Frauenförderung nichts mit Larmoyanz und schon gar nichts mit Feminismus zu tun hat. „Bei uns in Deutschland gibt es einfach ein gesellschaftliches Problem. Frauen, die Kinder haben und ganztags arbeiten, werden immer noch scheel angeguckt und haben Probleme, überhaupt eine Kinderbetreuung zu finden.“
Immer wieder hat Christiane Nüsslein-Volhard erlebt, wie junge Wissenschaftlerinnen zu verzweifelten Müttern wurden, weil sie an der Kinderbetreuung gescheitert waren, die zumindest im Westen der Republik nicht vorsieht, dass eine Mutter beides haben kann: Kinder und Karriere. Und sie hat erlebt, wie viele gute Wissenschaftlerinnen der Forschung verloren gingen, weil sie mit der Doppelbelastung nicht zu Recht kamen.
Jana Krauss wäre eine von ihnen geworden. Dass die heute 32-Jährige noch immer ein paar Türen entfernt von Christiane Nüsslein-Volhards Büro sitzt und unter dem Mikroskop eine Versuchsreihe betrachtet, ist so etwas wie die Ausnahme. Sie ist schlank, trägt eine Jeans und an den Füßen Turnschuh. Mit großen Schritten rennt sie durch das Labor des Instituts, holt aus einem Kühlschrank ein paar Proben, redet mit ihrer technischen Assistentin, und wenn es ihre Arbeit zulässt, raucht sie vor der Tür mindestens einmal in der Stunde hastig eine Zigarette, die sie oft nach der Hälfte wieder ausdrückt.
Ihr Sohn ist jetzt fünf und geht in eine Kita, die bis 17 Uhr geöffnet ist. Viel zu wenig Zeit, um all das zu erledigen, was auf dem Tagesplan einer ehrgeizigen Wissenschaftlerin steht. Deswegen steht sie meistens schon um halb fünf auf, um wenigstens zwei Stunde alleine an ihrem Computer zu sitzen und zu lesen. Um sieben Uhr fängt sie am Institut an. Ihr Mann bringt den Sohn Habib in die Kita. Um halb fünf am Nachmittag rast sie dann los, um den Bus zu erwischen, der sie zum Kindergarten bringt. Dort wartet schon Habib auf sie. Danach kauft sie ein, macht den Haushalt. Meistens geht sie gegen elf ins Bett. Sie komme mit vier Stunden Schlaf aus, sagt sie und lacht, während sie mit Schwung ihre langen dunklen Haare über die Schulter wirft.
Der Vater des Kindes, ein palästinensischer Araber, hat einen kleinen Fotoladen, der Kredit ist noch nicht abbezahlt. Bis vor kurzem musste die Familie mit einem Einkommen von 1.000 Euro netto plus Kindergeld leben. Der Platz für Habib in der Kita kostet 180 Euro, das ist für Tübingen noch günstig. Sie selber ist in der DDR aufgewachsen, wo sie im Alter von zwei Monaten in die Krippe kam. Ihr Mann ist dagegen mit dreizehn Geschwistern groß geworden. Da beide Eltern arbeiten mussten, passten die älteren Kinder auf die jüngeren auf.
„Am Anfang, als wir für Habib einen Platz suchten, dachte ich: Ich bin hier eine Außerirdische!“ Denn immer wieder musste sie sich anhören: „Ja, warum gehen sie denn überhaupt arbeiten?“ Aber für Jana Krauss und ihren Mann war es ganz selbstverständlich, dass man Kinder kriegt. In ihren Augen wartet man nicht erst den perfekten Zeitpunkt ab, wo man sich das Kind auch wirklich leisten kann. Doch als junge Wissenschaftlerin mit Kind ist sie hier am Institut die Ausnahme. Die Folge war, dass sie für jedes Seminar, das am späten Nachmittag angesetzt war, einen Babysitter gebraucht hätte, den sie sich aber nicht leisten konnte. Wenn abends im Kollegenkreis noch geredet wurde, musste sie zum Kindergarten hetzen. Und oft stand sie um halb fünf Uhr morgens auf, um in der Kindertagesstätte die Toiletten und die Küche zu putzen, denn in der Einrichtung, die sie sich leisten konnten, müssen die Eltern mitarbeiten.
„Irgendwann in dieser Zeit, als ich morgens die Kita putzen, danach meine Doktorarbeit schreiben und abends den Haushalt machen musste, hatte ich das Gefühl, ich gehöre gar nicht mehr ins Institut. Ich hatte keinen Input mehr“, erinnert sich Jana Krauss. Irgendwann wollte sie ihre Stelle aufgeben.
Die Schwierigkeiten ihrer Doktorandin blieben auch Christiane Nüsslein-Volhard nicht verborgen. Sie, die selber keine Kinder hat, erkannte, vor welchen Schwierigkeiten Nachwuchswissenschaftlerinnen stehen. Da ist es kein Wunder, dass junge Frauen bis heute in der Spitzenforschung fehlen – weil die finanziellen Möglichkeiten begrenzt sind, und weil keine Familie da ist, die hilft – finanziell oder einfach, indem sie Babysitter-Dienste übernimmt. Die Nobelpreisträgerin findet es absurd, dass man diese Frauen, die jahrelang ausgebildet wurden, unter diesen Umständen verliert. Umstände, die es weder in Frankreich noch in den USA gibt. Dort ist es selbstverständlich, dass das Kind ganztags betreut wird. „Selbst eine Wissenschaftlerin in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts hatte eine Haushaltshilfe“, sagt Nüsslein-Volhard. Und setzt grimmig nach: „ganztags!“
Deshalb hat sie eine Stiftung gegründet, die ihren Namen trägt und die begabten Nachwuchswissenschaftlerinnen mit 400 Euro Unterstützung im Monat helfen will, damit sie mehr Zeit gewinnen. „Wir wollen nicht, dass die Frauen keine Zeit mehr für ihre Kinder haben. Ganz im Gegenteil. Wenn sie frei haben, sollen sie mit ihren Kindern spielen. Aber manche dieser privaten Krippen sind ja auch deswegen so billig, weil die Mütter dort den Boden schrubben müssen. Und das finde ich so etwas von kontraproduktiv!“ So richtig still sitzen bleiben kann Christiane Nüsslein-Volhard bei diesem Thema nicht. Sie schlägt die Beine übereinander, streift ihre Schuhe ab und streckt sich auf dem Sofa aus, während sie sich richtig in Rage redet und dabei die hessische Sprachfärbung aus ihrer Kindheit durchkommt: „Also, da denk ich doch: Ich glaub, ich spinn!“
Sie bestärkte ihre Doktorandin weiterzumachen. Mittlerweile hat Jana Krauss eine besser bezahlte Stelle. Sie verdient nun 2.000 Euro brutto. Damit ist vieles leichter geworden. Aber bis sich auch in den Köpfen etwas ändert, dauert es wohl noch. Als ihr Sohn Habib eines Tages aus dem Kindergarten kam und erzählte: Mama, alle sagen, dass du mich immer viel zu spät abholst, da verstand sie erst gar nicht, wovon der Kleine sprach. Schließlich war die Kita bis 17 Uhr geöffnet. Beim nächsten Mal redete sie mit den Erzieherinnen und sagte, dass sie nicht möchte, dass sie so etwas ihrem Kind erzählten. „Hier wird das mit der Kinderbetreuung eben nicht als Dienstleistung verstanden, im Gegenteil: Man muss noch dankbar sein.“
Statt mit Fruchtfliegen, wie es ihre Chefin Christiane Nüsslein-Volhard vor 20 Jahren getan hat, forscht sie heute mit Zebrafischen. Jana Krauss will verstehen, warum adulte, also erwachsene Stammzellen noch weiter wachsen, obwohl sie bereits voll ausgeprägt sind, was etwa dazu führt, dass sich Muskelgewebe aufbaut und regenerieren kann. „Man muss erst mal lernen, dass man das System nicht ändern kann. Man muss es verstehen und dann versuchen, mit ihm zu arbeiten“, sagt Jana Krauss über ihr Fachgebiet. So wie sie es sagt, könnte es für beide Bereiche gelten: Für die Manipulationen der Genforschung und für die derzeitige Familienpolitik.