: Die Geschichte einer Abnabelung
FAMILIE Kristin Feireiss, die Gründerin der Architekturgalerie Aedes, hat ein Buch über ihre Familie geschrieben – die Neckermanns
VON KATRIN BETTINA MÜLLER
Unter Architekten und unter Interessierten der Architekturgeschichte kennt man den Namen Kristin Feireiss. 1980 gründete sie in Berlin die Architekturgalerie Aedes, zusammen mit einer Freundin, und ist seitdem eine unermüdliche Promoterin einer breiten Teilhabe am Diskurs über Architektur und Stadtplanung. Ab 1996 leitete sie für fünf Jahre das Architekturmuseum in Rotterdam.
In diesem Jahr ist Kristin Feireiss siebzig Jahre alt geworden, und sie hat ein Buch über die Geschichte ihrer Familie geschrieben: „Wie ein Haus aus Karten. Die Neckermanns – meine Familiengeschichte“. Für viele, die Feireiss als Galeristin kennen, ist diese Herkunft überraschend, sie war lange auch für die Autorin selbst kein Thema, zumindest kein öffentliches. Josef Neckermann wurde zu ihrem Pflegevater, nachdem ihre Mutter, Josefs Schwester Mady, 1947 mit ihrem Mann Hans Lang bei einem Autounfall ums Leben kam, als ihre Tochter Kristin, Tini genannt, fünf Jahre alt war.
„Wie ein Haus aus Karten“ ist ein mühevoll geschriebenes Buch. Denn zum einen steht am Anfang seiner Geschichte ein nie verwundenen Verlust: Nicht nur, dass sie ihre Eltern und einen Bruder so früh verloren hat, war für die Erzählerin schmerzhaft, sondern auch, dass sie sich lange nicht an ihre Eltern erinnern konnte, kein Bild von ihnen hatte. Die einzelnen Kapitel, die sich an den wechselnden Wohnorten der Langs und der Neckermanns (in Franken, Oberursel, Frankfurt und Berlin) festmachen, gelten auch einer erst spät begonnenen Recherche nach den leiblichen Eltern, dem Sammeln von Informationen, der Ergänzung eines lückenhaften Bildes. Zum anderen erzählt Kristin Feireiss von ihrer Verwobenheit in die Pflegefamilie, um sich selbst zu erklären: Warum sie, um selbstständig zu werden und ihren Weg erst als Journalistin und dann als Galeristin zu gehen, sich von dieser Bilderbuchfamilie des Wirtschaftswunders, ihren Konventionen und Leistungsnormen, abnabeln musste. Die Autorin gibt dabei zu erkennen, dass sie auch in ihrem eigenen Ehrgeiz und Streben nach Autonomie womöglich tiefer von den Maximen des Versandhauskönigs und seiner auf Repräsentation bedachten Gattin geprägt ist, als ihr lieb ist – und auch deshalb die Geschichte so spät kommt und auch so peinsam zu erzählen ist.
Zum Beispiel der Kampf um Anerkennung, er sitzt so tief. Ausführlich berichtet Kristin Feireiss, wie sie die Liebe der Pflegemutter Annemi suchte, für sie Geschichten erfand, Massen von emotional hochschnellenden Briefen aus dem Internat schrieb, sich auf Fotos neben sie drängte, näher als die leiblichen Kinder – und heute darin selbst den falschen Zungenschlag sieht, das peinlich Eifernde. So schonungslos und nüchtern schildert sie sich von heute aus gesehen in ihren Fehlern als junges Mädchen, dass dem Leser ein wenig unwohl wird. Sucht sie nun seine Anerkennung mit dieser großen Ehrlichkeit?
Solche intimen Bekenntnisse, solches Rechten auch mit sich selbst, hat doch diese gestandene Frau nicht nötig, das denkt man bei der Lektüre gelegentlich. Interessant ist Feireiss’ Buch dennoch zu lesen, weil sie neben ihrer Biografie zugleich ein sehr anschauliches Dokument von den Verdrängungsleistungen der Nachkriegszeit zeichnet. Da sind auf der einen Seite die Rituale, die den sozialen Status festigen. Besonders beeindrucken Annemis Weihnachtsbriefe mit den ausführlichen Erfolgsbilanzen der weitläufigen Familie (Schulzeugnisse, Gewinne im Sport und im Geschäft) und der Trend der Neckermanns, die Toten der Familie im Sarg nach einem Schönheitsideal zu modeln, das ihnen im Leben gar nicht entsprach. Disziplin und Stolz gehören zu diesem Selbstbild und: sich jeden Erfolg selbst verdient zu haben. Da sind auf der anderen Seite die Jahre, über die man nicht redet. Es gab in der Familie keine Auseinandersetzung damit, dass die Grundlagen des Neckermann-Imperiums auch auf der Arisierung von jüdischen Betrieben und dem Profit aus kriegswichtigen Geschäften und dem Einsatz von Zwangsarbeitern beruhen. Man pflegte das Nichtwissen als vermeintlich unpolitische Haltung.
Für Kristin Feireiss ist gerade dieser Abschnitt eine zwiespältige Geschichte, entdeckt sie doch viele Parallelen in den Geschäften ihres Vaters Hans Lang, unter anderem als Textilfabrikant, und denen von Josef Neckermann. Sie sucht nach den Unterschieden, sie wünscht sie herbei, aber sie findet in vielem von dem, was wir aus der Distanz von heute als den Nationalsozialisten angepasste Karriere beurteilen, wenig, um eine Differenz zwischen ihren beiden Vätern – die sich übrigens nicht leiden mochten – zu beweisen. So bleibt ihr nur, den ganz anderen Charakter ihres Vaters und ihrer Mutter zu betonen: ein glamouröses Paar, den Bällen und dem Luxus zugeneigt, lebenshungrig, gewitzt, draufgängerisch. In dieser Zeichnung ist das Buch auch das Erzeugnis eines Kindes, das keine Chance hatte, seinen Eltern seine Liebe zu zeigen; ein Buch der Sehnsucht nach einer Familie, die es nicht gab.
■ Kristin Feireiss: „Wie ein Haus aus Karten“. Ullstein, Berlin 2012, 352 Seiten, 19,90 Euro