So viel Kritik muss sein: Jan-Paul Koopmann über „Norden“ im Atelierhaus Friesenstraße: Tiefgekühlte Nostalgie
Der Norden ist die bescheuertste Himmelsrichtung, scheinbar superwichtig, weil der Kompass draufzeigt, in echt aber total lästig. Keine Sonne, keine Pinguine und dafür laufen einem ständig irgendwelche Nazis über den Weg, die sich hier ihre Schwachsinnsmythologie zusammenklauben. Natürlich ist das nicht fair und die Polarregionen können nichts dafür. Dass man auf der Suche nach dem Norden aber stolpern und in gefährliche Fahrwasser geraten kann – davon erzählt die Gruppenausstellung „Norden“ im Atelierhaus Friesenstraße.
Vier Bremer Künstler*innen umkreisen ihr Thema ganz bewusst in zunächst großer Distanz. Natürlich kommt das Klima vor und raue Natur. Aber auch Kitsch: Anette Venzlaffs „La Paloma“-Spieluhr zum Beispiel, auf der Hans Albers rauchend am Steuerrad zu sehen ist. Das sind auch unerwartete Sehnsuchtsbilder, was nicht weniger tief geht, nur weil es großer Quatsch ist. Venzlaff zeigt hier noch Malerei und Assemblage, besonders hübsch gerät ein Diorama, wo sich unter dem Gemälde eines romantisch triefenden Walds à la Caspar David Friedrich ein echtes Pelztier in echte Erde gekugelt hat.
Dieses Miteinander von Natur und ihrer Idee zieht sich auch durch die Arbeiten von Werner Henkel: Da reduziert er das Foto einer Walrosskolonie auf ihre Zähne, die jetzt wie Spuren aufs Verschwinden deuten. Noch ausdrücklicher klimatisch ist Henkels einsamer Eisbär, der aus einem Naturkundebuch stammt, wobei Henkel die Jäger und ihr Equipment blau übermalt hat. Die geschundene Kreatur ist noch da, aus der brutalen Jagdszene wird ihr Vereinzelungsbild. Das vielleicht sogar noch grausamer, obwohl die Übeltäter nicht mehr zu sehen sind.
Es sind Ideen vom Wegschmelzen, die sich durch alle Arbeiten ziehen. Manchmal auch ironisch: das gefakte Buchcover von Goethes „Norwegenreise“ etwa, oder ein auf der Vernissage wegschmelzender Berg Maracuja-Eis am Stiel. Ob jetzt echte Natur oder nostalgisch bewahrte Kindheitserinnerung: In „Norden“ bildet alles Risse, Brüche – das hier auch wortwörtliche Zerfließen des traditionellen Bildes.
Was nicht heißt, dass es nicht vorkäme. Dolf Bissinger hat unter anderem einen preußischen Seeatlas von 1749 umgearbeitet, die aufgeladenen Motive aufgegriffen und weitergesponnen. Die Ausstellung dokumentiert auch sein Ringen mit der Frage, wie sich Landschaft heute noch malen ließe. Er gibt zwei großformatige Vorschläge: einmal als Zitat, in das Bissinger den Rahmen gleich mit eingearbeitet hat, und als flächiges Erinnerungsbild, in dem seine Ursprünge in der Farbfeldmalerei noch deutlich spürbar sind.
Im doppelten Wortsinn fantastisch fallen Benjamin Beßlichs Ungeheuer aus, die zwar nur unter einem Mini-Diascop zu sehen sind, einem dann aber monströs entgegenspringen: wie Drachen oder Bakterien – fremd und gefährlich jedenfalls. „Norden“ ist ein Sammelsurium, in dem sich Naturbild, Expeditionsgeschichte und tatsächlich auch Urgewalten mit dem Kuriosen verbinden. Unwirtlich wirkt das mitunter, rau, aber auch von eigenwilligem Charme. Das ist ein nordisches Klischee – natürlich –, aber es ist eins der angenehmeren Art.
Ausstellung bis 1. 12., Atelierhaus Friesenstraße 30
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