: Es bleibt bei Neuwahlen. Wetten?
Mehrheit der Verfassungsrichter scheint trickreiche Vertrauensabstimmung zu billigen
aus Karlsruhe CHRISTIAN RATH
„Die rot-grüne Mehrheit steht hinter dem Kanzler wie eine deutsche Eiche“, sagte Jelena Hofmann mit ihrem leicht slawischen Akzent. Die SPD-Abgeordnete begründete gestern vor dem Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe, warum sie und ihr Kollege Werner Schulz (Grüne) die vorgezogenen Neuwahlen zum Bundestag verhindern wollen.
Die in Russland geborene Abgeordnete begann ihren Vortrag unkonventionell und dankte ihren Freunden und ihrer Familie für die Unterstützung. Die Chemnitzer Politikerin deutete damit an, dass sie in ihrer Partei unter erheblichen Druck geraten war. Dann las sie einige Briefe und E-Mails „aus dem Volke“ vor, die sich ihrer Haltung anschlossen. Es habe keinen zulässigen Grund gegeben, den Bundestag aufzulösen, so Hofmann.
Auch der Grünen-Politiker Werner Schulz begann persönlich. „Ich war in der DDR zwanzig Jahre in der Opposition, mir wurde die Demokratie nicht geschenkt.“ Und deshalb will er die „kalte Abwicklung des Bundestags“ nicht akzeptieren. „Der Kanzler hat keinerlei Beweise vorgelegt, dass er die Mehrheit verloren hatte. Die Auflösung des Bundestags darf nicht auf ein Gefühl des Kanzlers, auf pauschalen Argwohn gestützt werden.“ Schulz war gestern allerdings weniger fulminant als sonst, da er auf freie Rede verzichtete.
Ein erstes Ergebnis der Verhandlung ergab sich relativ bald. Auch künftig kann der Kanzler oder die Kanzlerin eine Vertrauensabstimmung absichtlich verlieren, um mit diesem Trick Neuwahlen auszulösen. Dies hat das Bundesverfassungsgericht schon 1983 zur damaligen Vertrauensfrage Helmut Kohls entschieden, und daran wollte niemand rütteln, außer Jelena Hoffmann („es verstößt doch gegen die Würde des Bundestags, wenn ich in einer Vertrauensabstimmung gegen den Kanzler stimme, obwohl ich ihn unterstützen will“). Doch weder Werner Schulz noch die beiden Prozessbevollmächtigten Wolf-Rüdiger Schenke und Hans-Peter Schneider äußerten hierzu Einwände, schon um das Verfassungsgericht nicht zu verärgern.
Im Fall Helmut Kohls hatte Karlsruhe 1983 nämlich nur verlangt, dass im Bundestag eine „politische Lage der Instabilität“ besteht. Auch daran wird das Gericht wohl festhalten. „Da bewegen wir uns nicht von runter“, sagte Richter Udo Di Fabio, der das Urteil vorbereiten wird.
Entscheidender Streitpunkt war gestern die Frage, wer feststellt, ob der Kanzler noch das stetige Vertrauen der Parlamentsmehrheit hat. Die Verfassungsrichter hatten 1983 hierfür dem Bundeskanzler einen „Beurteilungsspielraum“ eingeräumt, der vom Bundespräsident und vom Bundesverfassungsgericht nur korrigiert werden kann, wenn eine andere Einschätzung „eindeutig“ vorzuziehen ist. „Daran fühlte sich auch Bundespräsident Horst Köhler gebunden“, erklärte des- sen Rechtsvertreter Joachim Wieland. „Immerhin handelte es sich um eine Vorgabe des Bundesverfassungsgerichts.“
An diesem Punkt zeigte sich auch, dass die Kläger entgegen anderslautender Bekenntnisse, doch auf eine Korrektur des Urteils von 1983 abzielen. „Der damals dem Kanzler eingeräumte Einschätzungsspielraum geht zu weit“, kritisierte Wolf-Rüdiger Schenke. „Es kann nicht sein, dass die Einschätzung des Kanzlers gar nicht mehr zu widerlegen ist“, so Schenke. Sein Kollege Hans-Peter Schneider forderte sogar: „Wenn der Kanzler behauptet, er sei einem ‚Erpressungspotenzial‘ von linken Abgeordneten ausgesetzt, dann muss er auch Namen nennen.“
Dem widersprach Innenminister Otto Schily, der gestern die Bundesregierung vertrat, vehement. Man könne vom Kanzler nicht verlangen, seine Gestaltungsmöglichkeiten aufs Spiel zu setzen. „Hätte der Bundespräsident das Parlament nicht aufgelöst, dann hätte der Kanzler ja mit diesen Abgeordneten weiterregieren müssen.“ In der Sache brachte Schily nichts Neues vor. Kanzler Schröder habe sich spätestens nach der verlorenen NRW-Wahl der notwendigen Unterstützung der Bundestagsmehrheit nicht mehr sicher sein können. Keine Namen, keine Beispiele, nicht einmal Zeitungsausschnitte verteilte der Minister.
Es blieb Köhlers Vertreter Joachim Wieland überlassen, zu erklären, warum der Bundespräsident den Neuwahl-Wunsch des Kanzlers akzeptiert hat. Wieland nannte dabei vier Punkte: die knappe rot-grüne Mehrheit von nur drei Stimmen, die Verunsicherung der Abgeordneten nach den verlorenen Landtagswahlen und durch den oppositionell dominierten Bundesrat sowie das Erpressungspotenzial linker Abgeordneter. Diese Gründe zusammengenommen habe Köhler „plausibel“ gefunden.
Im Gericht ergab sich allerdings schnell eine lebhafte Diskussion. „Wenn das die Gründe waren, dann überzeugen sie mich nicht“, sagte Verfassungsrichter Hans-Joachim Jentsch. „In Hessen regiert Roland Koch mit einer Stimme Mehrheit – und er ist froh darüber, weil es die Abgeordneten diszipliniert.“ Gegenfrage des Senatsvorsitzenden Winfried Hassemer: „Warum wollen die Parteien dann immer eine möglichst große Mehrheit haben?“
Wolfgang Wieland und Bernhard Schlink, Bevollmächtigter der Bundesregierung, nahmen die Diskussion zum Anlass, auf die Bedeutung des Beurteilungsspielraums für den Kanzler hinzuweisen. „Wenn man eine Sache so oder so sehen kann, dann muss eben klar sein, wer entscheidet“, argumentierte Wieland. Und Schlink wusste auch wer: „Das Verfassungsgericht hat dem Kanzler 1983 nun mal einen Beurteilungsspielraum eingeräumt, da kann es heute doch nicht ernsthaft erwarten, dass sich der Bundespräsident darüber hinwegsetzt“, argumentierte Schlink. Allenfalls für neue Fälle in der Zukunft könnte Karlsruhe neue Regeln aufstellen.
Nach der gestrigen Verhandlung dürfte der Wahltag am 18. September wohl nicht mehr gefährdet sein. Es dürfte im Senat zwar kein einstimmiges Ergebnis geben, aber eine 6:2-Mehrheit für die Neuwahlen scheint nahe zu liegen. Eindeutige Skepsis äußerte neben Richter Jentsch nur Richter Mellinghof, ebenfalls ein Konservativer.
Das Urteil wurde bisher für Ende August erwartet. Doch der Vorsitzende Winfried Hassemer warnte am Ende der Verhandlung: „Vorsicht: Es könnte sein, dass es schneller geht.“