: Im Schlachtfeld der drei Worte
Erst wollte Daniel Pascal Zorn unbedingt mit Rechten reden, nun versucht er, dem „Geheimnis der Gewalt“ auf die Spur zu kommen
Von Rudolf Walther
Autoren von Ratgeberliteratur und Popularphilosophen wollen notorisch „Welträtsel“ lösen. Oder sie propagieren die handstreichartige „Umwälzung“ der Wissenschaft. Mit einer Mischung aus beidem tritt der Philosoph Daniel-Pascal Zorn in seinem neuen Buch „Das Geheimnis der Gewalt. Warum wir ihr nicht entkommen & und was wir trotzdem dagegen tun können“ an.
Das am häufigsten benutzte Wort in seiner Schrift ist „wir“. Der erste Satz lautet: „Reden wir von Gewalt, denken wir an das Naheliegende.“ Wer damit gemeint sein könnte, verrät Zorn nicht. Lediglich räumt er an einer Stelle ein, das Wort könnte „anklagend oder vereinnahmend“ wirken. In den meisten der 28 kurzen Kapitel, die der Einleitung folgen, hat dieses „wir“ einen eher prätentiösen Charakter, weil der 38-Jährige meistens von sich und seinen Erfahrungen berichtet und den Zugang zum komplexen Gegenstand der Einfachheit halber mit dem triumphalistisch-pompösen „wir“ platt walzt, das Angebern immer schon als Passepartout diente. Zorn möchte „der Gewalt“ nachspüren, vermeidet aber sachliche, historische und systematische Präzisierungen, obwohl Gewalt tel quel nicht existiert, sondern immer nur in historisch, sozial, politisch, psychologisch, situativ und anderen erläuterungs- und erklärungsbedürftigen Formen. Differenzierung und Präzision sind also Zorns Sache nicht. Er glaubt, dem ebenso komplexen wie amorphen Begriff „Gewalt“ beikommen zu können, indem er „assoziativ operiert und agiert“ in der konfusen Annahme, „die freie Form des Essays“ dispensiere den Autor von stringenter Argumentation und intellektueller Disziplin.
Ein Essayist unterscheidet sich von einem Flohmarktflaneur, den interessiert, was gerade ins Auge springt. Zorns Ahnungslosigkeit verdankt der Leser Sätze wie die folgenden: Gewalt „setzt sich über das Recht hinweg“, ein Gewalttäter will „zugleich Exekutive, Legislative und Judikative“ sein. Zu welcher Zeit, in welchen Gewaltkonstellationen und für welche Täter trifft diese pauschale Feststellung zu? Vielleicht für die etwas schwer vorstellbare „neue Dimension von Gewalt“ in der Kommunikation, wo „kommunikative Gewalt“ herrscht und die „Öffentlichkeit zur Legislative … und zur Judikative“ wird und Öffentlichkeit mit „Volksgerichtshof, Lynchjustiz und Pogrom“ kurzgeschlossen wird?
Daniel Pascal Zorn: „Das Geheimnis der Gewalt“. Klett-Cotta, Stuttgart 2019. 198 Seiten, 20 Euro
Neben solchen wirren und verwirrenden Assoziationen begnügt sich Zorn gern mit trivialen Befunden: „Auch der Staat kann Gewalt ausüben“, „Kommunikation findet ständig statt“ und „plötzlich ist Gewalt … wirklich überall“. Wer über Gewalt spreche, so Zorn, setze sich schon allein deshalb der Gewalt aus. Und dann wieder „wir“: „Solange wir es nicht merken, merken wir es eben nicht.“ Nachdem sich Zorn durch ein Gestrüpp von Gewaltassoziationen aus Funk und Fernsehen gearbeitet hat, kommt er zu seiner These: „Gewalt zielt auf ein Geheimnis, das der Gewalt einstweilen gar nicht zugänglich ist.“
Zorn beschäftigt sich mit allem möglichem, was irgendwie mit Gewalt und Geheimnis oder beidem zu tun haben könnte. Dabei setzt er historisch ein mit dem Dreißigjährigen Krieg, einer ungeheuren Gewaltorgie, die freilich nur Dilettanten wie Zorn als „Religionskriege“ bezeichnen, denn es ging dabei fast nie um Religion, sondern um die Herausbildung der modernen Staaten, ihrem Gewaltmonopol, ihrer Souveränität und der Funktion des Rechts im Zeitalter von Frühaufklärung im 17. und Aufklärung im 18. Jahrhundert.
Zorn stützt sich dabei direkt auf Reinhart Kosellecks im intellektuellen Schatten Carl Schmitts entstandene Dissertation „Kritik und Krise“ (1959). Die These, wonach „Geheimbünde und Geheimorden, Rosenkreuze und Freimaurer, Illuminaten“ – kurz die Aufklärung – eine Verschwörung gegen den Staat angezettelt hätten, diente bei Schmitt wie bei Koselleck nur der politischen und moralischen Delegitimierung von Aufklärung, Kritik und Emanzipation und ist historisch längst widerlegt. Es ist bezeichnend, dass Koselleck jene Dissertation in seinen eigenen Artikeln „Krise“ und „Revolution“ im höchst beachtlichen, von ihm mit herausgegebenen Lexikon „Geschichtliche Grundbegriffe“ nicht einmal mehr erwähnt! Ernst genommen wird Kosellecks Eintrittskarte ins muffige akademische Milieu der fünfziger Jahre heute nur noch von weit rechts stehenden Autoren und solchen, die sich hinter Koselleck verstecken, weil es eben nicht mehr so schick und zweckdienlich ist, als Schmittianer aufzutreten.
Auf der Suche nach dem „Geheimnis“ jagt Zorn die LeserInnen durch eine Welt von Sekten, Magiern, Harry Potter, Kontaktbörsen, Horrorfilmen, SUV-Fahrern und Michel Foucault. Der operierte ähnlich assoziativ mit dem Begriff „Macht“ wie Zorn mit dem Begriff „Gewalt“. Bei Foucault verbünden sich Freiheit und Macht und verdecken sich wechselseitig. Zorn: „Was, wenn wir am Ende die Verschwörer sind, gegen die wir ankämpfen?“ (…) oder „zu den Magiern werden, von denen wir fasziniert sind. (…) Wir manipulieren uns selbst.“
Tautologischer Loop
Beim Lesen wird man von Zorn an der Nase herumgeführt. Seite 165: „Am Anfang war die Insel.“ Zwölf Seiten später heißt es: „Am Anfang war die Gewalt.“ Am Schluss wissen wir immer noch nicht, was „das Geheimnis der Gewalt“ ausmacht. Das Spiel mit den drei Wörtern „wir“, „Geheimnis“ und „Gewalt“ mündet in eine tautologische Endlosschlaufe, denn „wir machen aus Gewalt ein Geheimnis“. Wenn wir es lüften wollen, „für uns zugänglich machen – das Wissen der anderen, das Eigentum der anderen, das Land der anderen“, dann machen wir „unsere Gewalt“ sichtbar dadurch, dass „wir sie zum Geheimnis machen, um anderen ungestraft ihr Geheimnis“ zu entreißen. Ergo: Alles ist Geheimnis, alles Gewalt und im Wir(r)-Kopf wird es verknotet mit Wissen, Eigentum, Land, Inseln und dem Rest der Welt. Rettung naht mit der auftrumpfenden Letztphrase vom „ethischen Komparativ“. Gewalt ist zwar „universell“, selbst „absolute Gewaltlosigkeit“ ende immer in Gewalt. „Gegebene Gewalt muss weniger werden“, auch wenn es mehr Chancen gibt, Gewalt durchzusetzen, als solche, sie zu verhindern. „Aber das bedeutet nicht, dass wir nicht versuchen sollten, es besser zu machen.“ Luft.
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