„Liebe ist ein irrealer Begriff“

Walter Schels porträtierte die Kanzlerin ebenso wie Schafe und unheilbar Kranke. Ein Interview über das Fotografieren

Walter Schels in seinem Hamburger Atelier: In der Hand hält er „Schaf“, ein Bild aus dem Jahr 1984 Foto: Miguel Ferraz

Interview Jan Paersch

taz: Herr Schels, Sie haben in Ihrer 50-jährigen Fotografen-Karriere sehr unterschiedliche Menschen fotografiert, darunter Politiker wie Helmut Schmidt oder Angela Merkel. Hatten die immer Lust dazu?

Walter Schels: Kaum jemand lässt sich gerne fotografieren. Gerade Prominente haben oft erfahren, dass ein Bild alles verfälschen kann. Woher soll man wissen, was der Fotograf machen wird? Ich habe auch viele Musiker porträtiert. Sie kennen ihre Schokoladenseite genau und wollen die Kontrolle über ihr Bild behalten. Sich fotografieren zu lassen, heißt aber: Ich lasse etwas zu. Wenn es mir gelingt, bei meinem Gegenüber etwas wie Hingabe oder Loslassen zu erreichen, sieht man das.

Wie war es mit der Bundeskanzlerin?

Sie ist es gewohnt, fotografiert zu werden. Sie fragte: „Was muss ich tun? Soll ich lächeln?“ Ich sagte, sie müsse gar nichts tun, schon gar nicht lächeln. Da war sie erleichtert. Es war ein sehr angenehmer Termin.

Gibt es einen Trick für gelungene Bilder?

„Trick“ würde ich das nicht nennen. Meine Schlüsselerfahrung hatte ich, als ich in den siebziger und achtziger Jahren Neugeborene fotografierte. Deren Mimik funktioniert spiegelbildlich: Lächle ein Baby an, und es lächelt zurück. Blicke ich finster, und es beginnt zu weinen. Wenn ich bei einem Fototermin das Fotolächeln wegbekommen will, lächle ich selbst kein bisschen. Nicht einmal der Dalai Lama hat es geschafft, gegen mein ernstes Gesicht anzulächeln! Wie ich die Menschen anschaue, so schauen die zurück.

Aber mit Menschen wie Helmut Schmidt muss man schon Kämpfe ausfechten, oder?

Ja, aber er war der Kämpfer! Helmut Schmidt war bekanntermaßen jemand, der Fotografen verachtete. Ihm fiel es schwer, zu ertragen, dass ihm jemand sagt, was er tun soll.

Sind auch Sie ein Kämpfer?

Ich bin in die Hitlerzeit hineingeboren. Bei Kriegsende war ich neun Jahre alt. Meine Familie im bayerischen Landshut war sehr katholisch, und die Nachkriegszeit war autoritär. Ich habe mich immer gegen autoritäre Zumutungen gewehrt, schon als Kind. Ich war abwechselnd aggressiv und melancholisch.

Ihr erster Beruf war Schaufenster-Dekorateur. Wie kam das?

Mit 14 wusste ich gar nicht, was das ist, ein Dekorateur. Wäre es nach meinem Vater gegangen, wäre ich Autoelek­triker oder Radelflicker geworden. Aber ich hatte Glück: Meine Lehrerin in der Volksschule erkannte mein Talent fürs Zeichnen und sprach beim Chef des besten Modehauses in Landshut für mich vor. So kam ich in die Welt der Mode. Als Lehrling kaufte ich mir dann die erste Leica, für 300 Mark. Damals fast ein Jahresgehalt. Ich war begeisterter Amateur-Fotograf. Meine Filme entwickelte ich damals bereits selbst, allein schon aus Kostengründen.

Sie haben als Dekorateur jahrelang in Barcelona, Toronto und auch in Genf gearbeitet. Waren das Ihre Traumziele?

Nein, ich wollte nur weg aus Landshut, weg aus Deutschland. Am liebsten nach Amerika. In einer Schaufensterzeitung sah ich dann ein Inserat: „Dekorateur gesucht“. Im größten Kaufhaus Barcelonas! Dem Chefdekorateur, einem Deutschen, gefiel meine Arbeit, und ich bekam die Stelle. So ging es los. Darauf folgten vier Jahre in Kanada und eine Zeit, in der ich den ganzen nordamerikanischen Kontinent in meinem VW-Bus bereiste. Später brachte mich die Arbeit nach Genf, aber eigentlich wollte ich zu dem Zeitpunkt schon nicht mehr dekorieren. Meine Leidenschaft galt der Fotografie. Und wo wird man Fotograf? In New York.

Ein mutiger Schritt, als Amateurfotograf nach New York City zu gehen.

Meine Freunde erklärten mich für verrückt. Ich war ja ein Nobody und die Konkurrenz war riesig. Aber ich musste einfach Fotograf werden. Ich begann bei einem Modefotografen als Assistent. Nebenbei fotografierte ich pausenlos und baute mir ein gutes Portfolio auf.

Hatten Sie Vorbilder?

Fotografisch waren es Modefotografen wie Richard Avedon und Irvin Penn, deren Bilder ich schon als Dekorateur kannte. Aber ich bewunderte auch Jackson Pollock und Andy Warhol. Sonntags war ich oft im Museum. Ansonsten habe ich Tag und Nacht fotografiert. Jede Woche mussten neue Bilder in die Mappe!

Sie sind dann zurück nach Europa und haben für große Modemagazine fotografiert.

Ich war ein Greenhorn, aber für die war ich der Fotograf aus New York. Ich fotografierte große Kampagnen für Zeitschriften wie Elle. Dabei durfte niemand wissen, dass ich fast alles zum ersten Mal machte. Aber die Redaktionen waren begeistert. Ich eröffnete ein Studio in München und arbeitete auch in Paris. Das war ein Abenteuer! Aber erfüllt hat es mich nicht. Der Mensch interessierte mich mehr als die Mode.

Sie sind bekannt für ihre Schwarz-Weiß-Porträts. Haben Sie auch Farbfotos gemacht?

Walter Schels, geboren 1936 in Landshut, arbeitete als Schaufensterdekorateur in Barcelona, Kanada und Genf, ehe er in New York seine fotografische Karriere begann. 1970 eröffnete er in München sein eigenes Studio und arbeitete für Magazine wie Stern und Eltern. Er lebt und arbeitet in Hamburg.

Natürlich, die ganze Auftragsfotografie war in Farbe: Lufthansa, die Bundesbahn, Jägermeister, Playboy, L’oréal – alles in Farbe. Wir Werbefotografen mussten unser Handwerk beherrschen. Mit dem Smartphone kann heute jeder gute Fotos machen. Aber was mir wichtig war, meine eigenen Arbeiten, habe ich lieber in Schwarz-Weiß fotografiert.

Ab den achtziger Jahren haben Sie sich verstärkt der Porträtfotografie zugewandt. In einem Ihrer Bücher kontrastieren Sie die Aufnahmen von Säuglingen mit denen sehr alter Menschen. Ihre Frage dazu: „Wie alt müssen wir werden, um unser Gesicht so zu akzeptieren, wie es ist? Wie sehr müssen wir geliebt werden, um uns selbst zu lieben?“ Was ist Ihre Antwort?

Es gibt Anfang und Ende, Geburt und Tod. In beiden Fällen haben wir es auf gleiche Weise nötig, geliebt zu werden. Bei der Geburt noch mehr: Wir sind darauf angewiesen, uns angenommen zu fühlen. Liebe zu spüren ist ein existenzielles Bedürfnis.

Kann man das Gefühl Liebe mit der Kunst einfangen?

Liebe ist ein irrealer Begriff. Ich mag diese großen Worte nicht. Was bedeutet das schon? Man kann Blutdruck messen, aber den Schmerz und die Liebe nicht. Auch wenn Google es versuchen mag. Liebe muss man spüren.

Sie haben, gemeinsam mit Ihrer Partnerin, der Journalistin Beate Lakotta, mehr als ein Jahr lang in Sterbehospizen fotografiert. In Doppelporträts zeigen Sie unheilbar Kranke, jeweils vor und nach dem Tod. Wie kamen Sie darauf?

Wir wollten uns mit unseren eigenen Ängsten konfrontieren. Als Kind hatte ich nach Bombenangriffen schlimm zugerichtete Leichen gesehen. Seither litt ich unter Albträumen in Bezug auf Tote, Särge, Skelette. Diese Ängste haben mein ganzes Leben geprägt und auch meine Fotografie. Noch dazu haben Beate und ich einen Altersunterschied von 30 Jahren. Da ist Verlust zwangsläufig ein Thema.

Wie haben Sie es geschafft, die Angst zu überwinden?

Durch Übung. Wir waren Teil des Hospiz-Teams. Die Mitarbeiter stellten uns bei den Bewohnern vor. Es war merkwürdig, Menschen kennenzulernen und sie zu porträtieren, mit dem Wissen, dass das letzte Bild diese Menschen als Tote zeigen wird. Ich hatte die Bilder historischer Totenmasken im Kopf. Sie haben oft einen losgelösten Ausdruck. Ich habe mich gefragt, wie das zustande kommt. Ich war neugierig.

Wie haben Sie diese Bilder vorbereitet?

Mit vielen der Porträtierten führten wir lange Gespräche, auch mit den Angehörigen. Sie sollten ja mit unseren Bildern leben können. Es sollten Porträts entstehen, die gleichwertig zu denen der Lebenden waren.

Wie erreicht man das?

Man kann viel mit der Lichtführung ausgleichen und den Menschen mit Schatten schminken.

Wir brauchten die gleiche Haltung und das gleiche Licht wie zu Lebzeiten. Also mussten wir die Toten aufsetzen. Sonst haben wir nichts verändert. Es sollten keine abschreckenden Bilder entstehen. Das waren wir den Toten und den Hinterbliebenen schuldig, aber auch uns selbst.

Psychisch ist es sicher nicht leicht, sich so lange Zeit mit Sterbenden und Toten zu umgeben.

Das stimmt. Wir hatten ja Beziehungen zu all diesen Menschen aufgebaut. Es fiel uns schwer, zu begreifen, dass jeder, der dort hineinkommt, später einmal im Sarg hinausgetragen werden würde. Wenn es so weit ist, denkt man jedes Mal: So liege ich auch eines Tages da. Man sollte meinen, dass man mit der Zeit abhärtet. Aber das Gegenteil ist der Fall: Man weicht auf. In der Zeit haben wir viele Tränen vergossen, aber auch viel gelacht.

„Es war merkwürdig, Menschen kennenzulernen und sie zu porträtieren, mit dem Wissen, dass das letzte Bild diese Menschen als Tote zeigen wird“

In einem noch laufenden Langzeitprojekt porträtieren Sie transsexuelle Jugendliche während des Prozesses der Geschlechtsumwandlung. Was hat Sie an diesen Menschen interessiert?

Meine erste Aufnahme entsteht stets zu Beginn ihrer Hormonbehandlung, die letzte nach der geschlechtsangleichenden Operation. Wenn diese jungen Menschen so weit sind, ihr biologisches Geschlecht dem empfundenen anzugleichen, haben sie einen leidvollen Weg hinter sich. Es fällt mir schwer, diesen Schmerz des Sich-nicht-identisch-Fühlens nachzuempfinden. Aber das Thema der Selbstablehnung ist mir nicht unvertraut. In der Serie geht es mir darum, subtile Veränderungen sichtbar zu machen. Dafür versuche ich – wie bei all meinen Porträts – ein möglichst mimikfreies Gesicht zu zeigen.

Um dem Betrachter eigene Deutungsmöglichkeiten zu lassen?

Vielleicht. Obwohl natürlich jeder, der ein Porträt anschaut, etwas hineininterpretiert – nämlich sich selbst. Ein Porträt ohne Hintergrundinformationen zu betrachten, hat etwas Monologisches, es verführt zur Projektion. Deshalb finde ich bei vielen Porträts einen Text wichtig. Mir geht es aber um etwas anderes: Mimik ist wie eine Verkleidung.

Was meinen Sie genau?

Ich meine vor allem das Fotolächeln! Es verdeckt das Wesentliche, sozusagen die Grundtonart eines Menschen. Ob der eher Dur oder Moll ist, zeigt sich in dem, was ich das Originalgesicht nenne, sozusagen die Werkseinstellung. Dabei konzentriere ich mich auf den Blick. Die Augen können das ganze Gefühlsspektrum offenbaren.

Wenn Mimik eine Verkleidung ist: Wollen Sie die Porträtierten entkleiden?

Ich möchte niemanden bloßstellen, keinen Seelenstriptease. Aber schauen Sie nur in einen x-beliebigen Prospekt, da sind die meisten Gesichter mit Lächeln und Lachen zugekleistert wie mit dickem Zuckerguss. Das ist so, als müsste man ein Leben lang von der Nachspeise leben. Aber ich wünsche mir lieber die Kartoffeln!

Ausstellung „Walter Schels. Leben“: noch bis zum 3. Oktober, Haus der Photographie der Deichtorhallen in Hamburg