: Lange Haare waren wichtig in Wirklichkeit und Film
Kino der Kindheit (4): In Bad Segeberg ersetzte das Jugendzentrum das Kino. Für Indianer hatte man besonders viel übrig, glichen doch ihre Geschichten den von Vertriebenen
In der norddeutschen Klein- und Kreisstadt gab es kein Kino. Das heißt, irgendwann hatte es wohl ein Kino gegeben: Denn es gab ja noch die Bushaltestelle, die Harmonie hieß wie das Kino, das geschlossen worden war wegen mangelnden Zulaufs, bevor ich selber hätte reingehen können. Als ich sechs oder sieben war, Ende der 60er-Jahre, existierte es noch. Wenn ich Milch holen ging mit dieser Milchkanne aus Plastik, mit der ich die Gesetze der Zentrifugalkraft ergründete, guckte ich gerne die Filmplakate dort an. Sie warben wohl für Italowestern, Bruce-Lee-, Busen- und andere Erwachsenenfilme. Meine Eltern wollten nicht, dass ich die Filmplakate anguckte. Kino war für Erwachsene, und erwachsen war man zuerst mit 12, dann mit 16, schließlich mit 18.
Meinen ersten Film guckte ich 1972 in der Turnhalle des Jugendkulturzentrums „Mühle“. In der „Mühle“ gab es auch Blockflötenunterricht, Tischfußball, am Abend Judo und die Versammlungen der Deutschen Jugend des Ostens (DJO), die unter dem gleichen Kürzel längst „Deutsche Jugend Europas“ heißt, und manchmal auch Filme. Man bezahlte 50 Pfennig und saß auf unbequemen Stühlen.
Der Film hieß „Tschetan der Indianerjunge“, war von Hark Bohm und passte in die Stadt, die durch die Karl-May-Festspiele berühmt war. Die Farben habe ich als braun-und blaustichig in Erinnerung. Es war Sommer, und ganz dunkel war es in der Halle nicht. Man hörte den Projektor und bemühte sich, der Handlung zu folgen. Der Ton hallte irgendwie blechern. Ich war etwas verwirrt, dass der Film im Norden Amerikas spielte und nicht in heißeren Ländern, obgleich er von einem Indianerjungen handelte.
Als Kind wünschte man sich ja immer, Indianer zu sein, also lieber am Marterpfahl zu stehen als davor. Ich mochte das Gesicht des Helden, der sich durch beharrliches Schweigen den Ranchern verweigerte, die ihn gefangen hielten. Dann gab es wohl einen Trapper, der den Indianerjungen befreite, und es dauerte lange, bis der Junge dem Trapper vertraute. Die ganze Familie von dem Indianerjungen wurde ermordet. Es war traurig. Aber ob ich geweint habe, weiß ich nicht mehr.
Das Thema des Films war mir vertraut. Ich war ja mit den Flüchtlingsgeschichten meiner Mutter aufgewachsen, die als Kind vertrieben worden war. Der große Erfolg von Indianergeschichten in der deutschen Nachkriegszeit lässt sich vielleicht vor allem dadurch erklären, dass sie von Flucht und Vertreibung handelten und dass in diesen Geschichten die Vertriebenen, die Unterlegenen, die Indianer uneingeschränkt die Guten sein konnten. Dass die Karl-May-Festspiele in Bad Segeberg stattfanden, erschien von daher ganz logisch, denn die Stadt bestand fast zur Hälfte aus Flüchtlingen. Später haben wir bei einem Gruppenabend der DJO einen schwülstigen Film über die Heldentaten der nazideutschen Marine gesehen, der mir eher fremd war. Herr Müller, der Führer unserer Ortsgruppe, wurde später wegen Nazizeugs versetzt oder entlassen.
Mein erstes richtig großes Kinoerlebnis war dann „Woodstock“ mit 14, auch in der Turnhalle der „Mühle“. Der Film mit Jimi Hendrix an der Gitarre, der wunderschönen Grace Slick vor allem auch, erzählte von einem verlorenen Paradies, in dem total nette, langhaarige, pfeiferauchende Indianer in Zelten oder unter freiem Himmel wohnten und nackt zu Indianermusik tanzten.
Toll an „Woodstock“ war auch, dass die meisten im Publikum so ähnlich aussahen wie die im Film, dass es also einen Link zwischen unserer Wirklichkeit und dem Film zu geben schien – das versprach einen Weg, den man gehen konnte, um von der Wirklichkeit in den Film zu kommen. Den Rest der Jugend war man dann damit beschäftigt, langhaarige Woodstock-Lookalikes kennen zu lernen und deren Rituale einzuüben, die ab Mitte der 70er-Jahre auf diesen riesigen „Umsonst & draußen“-Festivals in Vlotho oder auch beim Zehn-Jahre-Woodstock-Konzert im Segeberger Kalkbergstadion im großen Stil wiederaufgeführt wurden. Der Wirklichkeit gelang es aber nie, so schön zu sein wie im Film. DETLEF KUHLBRODT