: Gazproms Macht bröckelt
MACHTPOKER Der Staatskonzern gibt die Entwicklung des größten Erdgasfeldes der Welt auf – die Förderung ist zu teuer. Die Karten auf dem Rohstoffmarkt werden neu gemischt
PIERRE NOËL, UNI CAMBRIDGE
VON INGO ARZT
BERLIN taz | Das Erdgasfeld Schtokman ist ein gewaltiger Schatz. 600 Kilometer nordöstlich von Murmansk, weit jenseits des Polarkreises, schlummern in der 300 Meter tiefen Barentssee 3,8 Billionen Kubikmeter Erdgas, etwa 2 Prozent der weltweit bekannten Reserven. Mindestens genauso gewaltig ist Gazprom, der Konzern, der zu 50,002 Prozent dem russischen Staat gehört und fast ein Fünftel des Erdgases weltweit fördert – nun kapitulierte der eine Gigant vor dem anderen. Gazprom gab nach russischen Medienberichten bekannt, das Feld nicht erschließen zu wollen.
„Die Kosten sind derzeit zu hoch“, sagte Wsewolod Tscherepanow von Gazprom der Zeitung Kommersant. 24,5 Milliarden Euro an Investitionen seien nötig, um das Feld zu erschließen. Trotz der beiden Partner, Total aus Frankreich und der norwegischen Statoil, offenbar zu viel. Dahinter steckt allerdings mehr als ein aufgegebenes Feld. Es handelt sich um eine Machtverschiebung auf den internationalen Energiemärkten. „Das ist ein sehr schlechtes Zeichen für Gazprom. Russisches Erdgas bekommt in Europa immer größere Konkurrenz, die Produktion ist schlicht zu teuer“, sagt Pierre Noël, Leiter der Abteilung für Energiepolitik an der Universität Cambridge, der taz.
Der Grund ist, dass es momentan weltweit eine Erdgasschwemme gibt. Seit mehr als drei Jahren fallen die Preise. Das liegt an zwei Entwicklungen: Die eine nennt die Internationale Energie-Agentur eine „Revolution“, vor allem in den USA. Dort stieg die Produktion seit 2000 um ein Fünftel, durch das umstrittene „Fracking“, bei dem toxische Flüssigkeiten in tiefe Gesteinsschichten gepresst werden, um das Gas aus dem Boden zu drücken. Allerdings: Ganze Landstriche in den USA sind bereits durch „Fracking“ verwüstet.
Früher waren einzelne Märkte weitestgehend getrennt, heute gewinnt Flüssiggas eine immer größere Bedeutung. Dabei wird das Gas auf unter minus 160 Grad gekühlt und kann so flüssig in Tankschiffen transportiert werden kann. In Ostafrika und vor allem Australien sind zudem neue Gasfelder erschlossen worden.
Offenbar lohnt sich angesichts dieser Konkurrenz das teure Abenteuer im tiefen Nordmeer nicht mehr. Noël führt noch weitere Beispiele für die Erosion der Macht von Gazprom an: Verhandlungen, die China mit Russland über eine Gaspartnerschaft führt, kommen nicht zum Abschluss. Die Chinesen akzeptieren die russischen Bedingungen nicht – und sie können es sich erlauben. Durch Fracking im eigenen Land könnten sie künftig auf eigene Produktion setzen. Ein weiteres Beispiel ist die deutsche Eon Ruhrgas. Erst kürzlich hatte sie es geschafft, Gazprom einen neuen Liefervertrag abzutrotzen, bei dem die Deutschen jährlich 1 Milliarde Euro weniger zahlen. Wäre Gazprom nicht auf die Bedingungen eingegangen, hätte Eon seine Gas-Tochter vermutlich in die Insolvenz führen müssen, vermutet Noël.
Auch Gazprom plante, einen Teil der Energie als Flüssiggas mit Tankern in die USA zu exportieren. „Dort herrscht aber ebenso wie auf dem europäischen Markt ein Überangebot“, sagte der Analyst Denis Borissow. Frühestens 2020 gebe es weltweit Bedarf für das Schtokman-Gas, meint er. Und in Europa drücken ganz andere Probleme die Nachfrage nach Erdgas: die Wirtschaftskrise, wegen der vor allem in Südeuropa die Industrie weniger Energie verbraucht.