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Archiv-Artikel

Halb Waffe, halb Waffel

Was den Journalismus für einige Leute anziehend und für andere instinktiv anrüchig macht, ist seine Doppelnatur. Er ist Kampfschrift gegen die Herrschenden und zugleich Kitt der Demokratie. Reinheit, so die provokante These, ist im Journalismus nicht zu haben

von Constantin Seibt (Text) und Tobias Greiner (Illustrationen)

Wo immer man in diesem Beruf hinschaut, es findet sich Zwielicht. Etwa, dass seine Ware halb Waffe, halb Waffel ist: Information, Wahrheit und Kritik als Unterhaltung. Oder dass sein Personal Neugier und Routine gleichermaßen beherrschen muss, also zwischen Unschuld und Abgefeimtheit pendelt. Dass das Neueste, das ein Medium anpreist, für seinen Verkäufer im Augenblick des Verkaufens das Uninteressanteste überhaupt ist: die Nachricht von gestern. Dass eine Redaktion alle wichtigen Leute mit Telefonnummer kennen, aber mit niemand befreundet sein sollte. Dass auch die aufrichtigsten Artikel nur die Rückseite der Kleininserate für Immobilien, Autos und Bordelle sind.

Und so weiter. Eine der faszinierenden Zwiespältigkeiten ist die Doppelrolle zwischen Opposition und Opportunismus. Einerseits ist Opposition das große Erbe: Journalismus war und ist Kitt und Waffe der Demokratie. Die legendären Momente dieses Berufs, von Emile Zolas „J'accuse“, über Leute wie Kisch, Tucholsky, Kraus, Hunter S. Thompson bis zu den Watergate-Recherchen sind alles Kampfschriften gegen Herrschende und Herrschendes.

Andererseits ist ohne Opportunismus alles vergeblich. Eine Zeitung will gekauft und gelesen werden: Die Geldgeber und das Publikum fordern Sensationen, Knaller, Bonbons. Kein ernsthafter Journalist kann sich leisten, sein Publikum zu verschrecken – es muss seine Meinung nicht teilen, aber ihn lesen. Das zwingt noch den unabhängigsten Kopf in die gerade laufende Debatte – so unsinnig diese auch sein mag. Denn nur die heißen Eisen lassen sich hämmern. Und es zwingt noch den aufrechtesten Journalisten zur Unterhaltung. Kein Wunder, liegt ein Hauch von Schminke, Unernst und Verfall selbst über den ernsthaftesten Redakteuren: der Geruch nach Altpapier und nach kleinem Kind.

So etwas wie Reinheit ist im Journalismus nicht zu haben.

Das obige Dilemma hat eine praktische Seite. Und zwar bei der wichtigsten Entscheidung für alle, die in den Bürofluren des Zwielichts ihr Geld verdienen. Es geht um das Verhältnis zwischen dem Journalisten und der eigenen Zeitung. Welche Strategie soll dieser dort wählen: Opposition oder Opportunismus?

Für jeden, der bei einem Medium anheuert, gibt es zwei Möglichkeiten: a) den ungeschriebenen Gesetzen seiner neuen Redaktion zu folgen. Oder b) gegen seinen Arbeitgeber und dessen Gesetze zu arbeiten. Für einmal gibt es bei dieser Wahl keinen Zweifel. Wer seinen Job und seine Redaktion ernst nimmt, der muss gegen sie arbeiten.

Erstens aus Notwehr. Wer zuverlässig Produkte im Stil des eigenen Blattes liefert, bleibt unauffällig. Im besten Fall ist er eine Perle unter Perlen. Es ist eine der großen Ungerechtigkeiten im Leben, dass Zuverlässigkeit (zumindest in der Aufmerksamkeitsbranche) nicht honoriert wird. Schon nach wenigen Tagen haben sich alle daran gewöhnt, dass Kollege XY pünktlich unproblematischen Stoff liefert. Niemand wird auch nur ein Wort darüber verlieren, höchstens ein flüchtiges: „Danke“. Die große Nachrichtenmaschine nimmt stumm ein weiteres Rädchen in Betrieb. Das war's.

Aufmerksamkeit bekommt nur, wer den internen Kodex regelmäßig bricht. Die richtige Strategie in jeder Zeitung ist dieselbe wie im Journalismus überhaupt: Man muss die Regeln, Gesetze, Vorurteile, Formen präzis studieren. Und sich dann fragen: „Wie wäre es, wenn wir es ganz anders machten?“ Und es tun.

Sagen wir, Sie heuern bei einer linken Wochenzeitung an. Ein ernstes Blatt, das seriös recherchiert und zu Anklagen neigt. Dann ist Ihre Strategie klar: Bringen Sie Leichtes hinein. Fröhliches. Und wenn Sie Kernthemen bearbeiten, dann streichen Sie alle bekannten Wertungen. Beschreiben Sie das Drama nackt. Und predigen Sie nie vor einer schon überzeugten Gemeinde. Schreiben Sie also nicht, dass der Turbokapitalismus böse ist. Sondern zeigen Sie, dass er sich nicht rentiert.

Oder Sie kommen zu einem konservativen Wirtschaftsblatt, stolz, starr, abstrakt. Bringen Sie Leben hinein – porträtieren Sie die seltsamen Köpfe, die abenteuerlichen Entscheidungen, den ganzen widersprüchlichen Wahnsinn der realen Wirtschaft. Erzählen Sie, statt zu predigen. Und wenn Sie predigen wollen, dann richtig, mit dem Vokabular der Bibel und nicht des Analysten. Kratzen Sie Publikum und Dogmen.

Oder Sie landen in einer biederen Lokalzeitung. Dann halten Sie Ausschau nach allem, was Weite verspricht. Nach weitgereisten Leuten, nach den weltbewegenden Strömungen im Kleinen: Denn diese sind Ihr wahres Thema. Kommentieren Sie das Lokale nie eng, sondern mit großem Herzen. Benützen Sie Zitate von Philosophen in den Artikeln über Katzenausstellungen.

Und wählen Sie Ihr Jagdgebiet klug. Am besten, wo weiße, unentdeckte Flecken sind. Wo auf alten Landkarten stand: „Hic sunt leones“. Hier gibt es Löwen. Diese unkartografierten Gebiete gibt es überall – in jeder Zeitung. Sie liegen erfahrungsgemäß erstens im Schreiben selbst: im sehr begrenzten Arsenal der möglichen Formen. Experimentieren Sie hier! Und zweitens im Brackwasser zwischen den einzelnen Ressorts: etwa in dem trüben Gebiet zwischen Wirtschaft und Politik. Oder im Feuilleton zwischen Büchern, Theater, Musik und Wissenschaft, Politik und Wirtschaft. Oder in der weiten Prärie zwischen Verwaltung und Leben: Was veranstalten die Angestellten mit den Strategien des CEO? Wie leben die Betroffenen eines gerade debattierten Gesetzes?

Verankern Sie Ihre Wurzeln vorzugsweise auf solchem schlammigem Grund. Denn im Rest der Zeitung sind Gärtchen und Gefängniszellen meist schon begrünt und bewacht. Zwischen zwei Welten zu wohnen hat den Vorteil, frei flottieren zu können – je nachdem, wo Flut, Ebbe und Neugier Sie hintreiben.

Aber Achtung: Sowohl die Tu's-anders-als auch die Brackwasser-Strategie funktioniert nur, wenn Sie echte Sympathie für Ihre Zeitung spüren. Sie müssen stolz sein auf das Blatt, dessen Mängel Sie erforschen.

Was nicht funktioniert, ist Opposition in einer feindlichen Umgebung. So hieß es beispielsweise zu Anfang des scharfen Rechtskurses der Weltwoche unter Roger Köppel, man wolle unbedingt Linke, Liberale und Unpolitische im Blatt. Auf dass das bessere Argument gewinne. Ziemlich viele kluge Leute glaubten daran. Und restlos alle wurden in mehreren Säuberungswellen aus der Zeitung gespült: teils erschöpft, teils entlassen.

Der Grund: In ideologisch oder formal starren Blättern gibt es keine Opposition. Selbst wenn einige andere Stimmen noch möglich sind (meistens werden sie als Kolumnisten eingekauft) spielen sie keine Rolle. So wie es nicht darauf ankommt, wohin sich die Passagiere bewegen, wenn der Zug in eine Richtung fährt. Dort zu arbeiten, ist kein machbarer Job.

Eine kluge Zeitung, eigentlich jede mit Format, zeichnet sich fast definitionsgemäß dadurch aus, dass in ihr möglichst viele Angestellte immer wieder in Opposition gehen: Das garantiert ihre Weite, ihre Neugier, ihre Entwicklung. So sind etwa berühmte bürgerliche Blätter nie durchgehend bürgerlich: die Frankfurter Allgemeine etwa leistet sich ein meist linksliberales, verspieltes Feuilleton; die NZZ einen oft unideologischen Auslandsteil. Auch linke, ernsthafte Zeitungen wie der Guardian oder die taz leisten sich einen deutlich unernsteren Teil 2. Nicht ohne Grund sind in allen Weltzeitungen das Klima, die Dogmen, der Stil von Ressort zu Ressort sehr verschieden.

Das ist keine wirkliche Überraschung. Denn in den Bürotrakten des Journalismus herrscht ein ewiges Zwielicht. Selbst scharf getrennte Gegensätze – wie etwa Opposition oder Opportunismus – sind im Licht des Halbschattens keine mehr. Sie bedeuten dasselbe.

Tut mir leid. Reinheit ist in diesem Job nicht zu haben.

Weiteres journalistisch Selbstreflexives gibt es im Blog von Constantin Seibt beim Züricher „Tages-Anzeiger“.