: Große Gefahr für kleine Opfer
Vom Risiko, dass vernachlässigte Kinder übersehen werden: Sozialarbeiterin warnt vor Überlastung der Jugendämter. Personalausstattung seit Jessicas Tod noch verschlechtert
Das Misstrauen, dass der demonstrativen Betroffenheit nach dem Tod der kleinen Jessica nicht die nötigen Taten folgen könnten, war wohl berechtigt. So hatte der Senat zwar Anfang April zugesichert, etwas gegen unbesetzte Stellen bei den Jugendämtern (Allgemeine Soziale Dienste, ASD) zu unternehmen.
Gestern gab nun aber die GAL bekannt, dass sich die Zahl der unbesetzten Stellen bei den ASD seit März von 19 auf 23 erhöht habe. „Der Senat vernachlässigt die Hilfe für Familien in Not“, urteilte GAL-Jugendpolitikerin Christiane Blömeke. Sie bezweifele, dass die Ämter heute „wirklich zeitnah reagieren können“, wenn sie auf das Elend eines Kindes hingewiesen werden.
Bekräftigt wurde dies von der Sozialpädagogin Elisabeth Tingel, die im März beim Harburger ASD gekündigt hatte – weil sie nach 23 Jahren „keine Chance“ mehr gesehen habe, ihre Arbeit so zu leisten, wie es nötig wäre. In den vergangenen zehn Jahren habe sich die Lage der Familien verschlechtert und andererseits der Verwaltungsaufwand so vermehrt, dass nunmehr bis zu 20 Schriftstücke pro Fall auszufüllen seien. Die Folge: Eine wöchentliche „Rückstandsliste“ der Fälle, denen nicht nachgegangen werden könne.
Dass auf dieser Liste nicht auch der Anruf einer Familie landete, die sich über ihre feuchte Wohnung beklagte, sei Glück gewesen. Tingel ging trotz Zeitnot hin und entdeckte in einem pitschnassen Bett ein Baby neben einem Fläschchen mit gegorener Milch. „Das Risiko, dass wir etwas übersehen“, so Tingel, „ist einfach zu groß.“
Was einmal im Monat in der Zeitung zu lesen sei, „erleben wir täglich“, sagte die Sozialarbeiterin. Sei es die Mutter, die ihre Kinder nicht von der Kita abholt, das Kleinkind mit Hämatom im Krankenhaus oder der Junge, der in der Schule plötzlich durch Leistungsabfall auffällt, weil die Mutter so krank ist, dass sich das Kind seit Monaten allein durchschlagen musste.
In solchen Fällen, so Tingel, müssten die Familien behutsam zur Selbsthilfe motiviert werden. Die Herausnahme eines Kindes aus der Familie sei stets nur die letzte Lösung. Tingel: „Früher hatte ich zehn Fremdplazierungen, und ich habe gut gearbeitet, wenn ich das vermieden habe. Zuletzt hatte ich 35.“
Nach ihrer Kündigung habe sie offene Briefe geschrieben, in denen sie dringend darum bat, ihre Stelle schnell wieder zu besetzen. Das sei jedoch nicht geschehen. In allen drei kinderreichen Bezirken, Wandsbek, Bergedorf und Harburg, so ergänzte Christiane Blömeke, „haben die Fälle zugenommen“.
„Es ist wahr, dass sich die Lage im letzten Halbjahr verschlechtert hat“, sagt auch Sebastian Panknin, Sprecher der für die Bezirke zuständigen Finanzbehörde. „Wir sind uns der Problematik bewusst und versuchen gegenzusteuern.“ Kaija Kutter