: Tod im Panoptikum
Mit moderner Überwachungstechnik hat Scotland Yard in London erfolgreich Terroristen ermittelt. Doch Kameras verhindern Terror nicht – sie disziplinieren nur friedliche Bürger
Scotland Yards Ermittlungserfolge nach den erfolgreichen und den versuchten Terroranschlägen in London sind beachtlich. Es dauerte beide Male nur wenige Tage, bis die grobkörnigen Bilder der Verdächtigen über die Bildschirme flimmerten und ihre Namen genannt wurden. Alle Überlebenden unter ihnen sind inzwischen verhaftet. Dieser Erfolg ist umso bemerkenswerter, als keiner der acht zuvor auf irgend einer der zahlreichen Listen von Terrorverdächtigen gestanden hatte. Der Name dieses Erfolgs ist ein Akronym: CCTV oder Closed Circuit Television.
Seit den Achtzigerjahren hat sich Großbritannien einer Philosophie der umfassenden Überwachung verschrieben, deren technisches Mittel CCTV ist. Zwischen 1992 und 2002 investierte das Home Office, das britische Innenministerium, mehr als 250 Millionen Pfund in die Förderung solcher Überwachungssysteme; Schätzungen zufolge kreuzt jeder Brite an einem geschäftigen Tag 300-mal die Sichtlinie einer Überwachungskamera. Es sind diese Kameras, denen sich die Identifizierung der Attentatsverdächtigen von London zur Gänze verdankt.
Flächendeckendes CCTV ist nichts anderes als die umfassende Realisierung jenes Panoptikums, das der britische Gentleman-Philosoph Jeremy Bentham vor zweihundert Jahren ersann und das durch Michel Foucaults Analyse in „Überwachen und Strafe“ zu einiger Berühmtheit gelangte. Bei Benthams Panoptikum handelt es sich um ein architektonisches Arrangement, das mit minimalem Personalaufwand die vollständige Überwachung einer größtmöglichen Anzahl von Gefängnisinsassen sicherstellen sollte: ein Gebäude in der Form eines doppelwandigen Zylinders mit einem Turm in der Mitte. Die Zellen befinden sich zwischen den beiden Zylinderwänden und sind voneinander durch Trennwände abgeschottet. Jede Zelle hat zwei Fenster, eines, das nach innen weist und mit den Fenstern des Turms in der Mitte korrespondiert und eines, das nach außen weist und Licht in die Zelle lässt. Die Wächter im Turm haben so perfekte Einsicht in die Zellen, das Geschehen wird dort prächtig illuminiert durch das von außen einfallende Gegenlicht. Der Turm selbst ist unbeleuchtet, die Aufseher unsichtbar hinter ihren Fenstern. Die Insassen wissen nie, wann sie beobachtet werden, und müssen deshalb damit rechnen, immer beobachtet zu werden.
Bentham sah im Panoptikum einen Architekturtypus, der nicht nur für Gefängnisse, sondern gleichermaßen für Irrenanstalten, Fabriken, Krankenhäuser und Schulen geeignet war, also für alle Institutionen, deren strafende, disziplinierende und erzieherische Mission intensive Überwachung verlangt und vom disziplinierenden Effekt unausweichlicher Sichtbarkeit profitieren kann. Funktional unbegrenzt und nur dem Drang und der schieren Lust, zu wissen, verpflichtet, ist das Panoptikum das Modell einer diskreten Institution, ein Prinzip eher als ein eng gefasster Zweck. Sein Prinzip deckt sich mit dem des Staates, und der Blick des allsehenden Aufsehers im Turm ist der Blick des allsehenden Staates selbst. Worum es dabei geht, ist von der Absicht her nicht notwendig boshaft, aber immer darauf ausgerichtet, Ambiguität zu vermeiden, Identitäten zu fixieren und den unendlichen, chaotischen Fluss von Bewegungen und Begegnungen einzuhegen und zu kanalisieren. Worauf das Panoptikum baut, ist nicht die Unmittelbarkeit des Zwangs, sondern die Prävention abweichenden Verhaltens durch den selbstdisziplinierenden Effekt des Wissens, immer exponiert zu sein.
Im CCTV ist der panoptische Staat realisiert, ein Staat von umfassender Überwachungskompetenz, die nicht nur in bestimmten Institutionen oder in bestimmten, notstandsähnlichen Situationen mobilisiert, sondern stetig bereitgehalten und ausgeübt wird, technologisch entkoppelt von der Bindung an unmittelbare Sichtbeziehungen, die Benthams Low-Tech-Modell noch auf kleine, umhegte Räume begrenzt hatte. Aber für beide, für Benthams Panoptikum wie den auf CCTV gestützten panoptischen Staat, gilt, dass der selbstdisziplinierende Effekt nur eintreten kann, wenn die Beobachteten nicht nur Mitglieder des panoptisch organisierten Sozialverbands sind, sondern es auch bleiben wollen.
Diese Voraussetzung ist aber im Falle der Terroristen, zumal wenn Selbstmordattentate das Mittel ihrer Wahl sind, nicht erfüllt. Das ist der Grund, weshalb die Ermittlungserfolge einen schalen Beigeschmack haben: Im Falle von Selbstmordattentätern ist die Tataufklärung eine akademische Übung, weil die Täter durch die Tat selbst sich in eine andere, transzendente Wirklichkeit absetzten, die der Arm des säkularen Gesetzes nicht erreichen kann. Es bedurfte eines kuriosen Unfalls – die Täter waren sich im Unklaren über das Verfallsdatum ihrer Waffe – um die Aufklärung von einem nominalen in einen materialen Erfolg wenden zu können.
Das Dilemma des Staates zeigt sich nicht in diesen Erfolgen, sondern in der tragische Tötung des jungen Brasilianers, eines gänzlich Unschuldigen, in der Londoner U-Bahn: CCTV mag die Aufklärungskompetenz enorm steigern, aber sie läuft ins Leere. Und dort, wo die Polizei präventiv einzugreifen versucht, ist sie auf archaische Mittel zurückgeworfen: die sekundenschnelle Entscheidung über Tod und Leben auf der unsicheren Basis von Verdachtsmomenten.
Die Stärke des panoptischen Staates beruht auf fixierten Identitäten und dauerhaften Mitgliedschaften. Die aber sind im Zeitalter der Globalisierung, der fluiden Identitäten und einer kaum begrenzbaren Mobilität nicht zu haben. Genau in dem historischen Moment, in dem der panoptische Staat technisch möglich wurde, wurde er sozial unmöglich. Der okzidentalistische Terrorismus macht sich diesen Umstand geschickt zunutze. Dass die Bilder und Namen seiner Agenten drei Tage später in den Nachrichten kommen, ist kein Schaden – im Gegenteil: Der Terrorismus folgt einer repräsentativen Logik und ist ohnehin veröffentlichungspflichtig.
Das Panoptikum verfehlt seinen disziplinierenden Effekt gegenüber den Anhängern eines destruktiven Todeskults – aber nicht gegenüber denjenigen seiner Bürger, deren Lebenspläne auf dauerhafte und friedliche Mitgliedschaft angelegt sind.
Und weil die Welt der Überwachungskameras eine Welt der radikalen Reduktion auf visuelle Reize ist, sind vor allem Immigranten anfällig, nicht nur wenn sie mit der Tätergruppe das ethnisch-rassische Raster teilen, sondern einfach aufgrund der visuellen Differenz. Dass der getötete Brasilianer von Augenzeugen zunächst als „südasiatisch“ beschrieben worden war, wirft ein Licht auf die gleichermaßen paranoide und beschränkten Wahrnehmung einer weißen Mehrheitsgesellschaft, die auf ethnisch kodierte visuelle Schemata konditioniert ist. Der Kampf gegen den Terror ist mit CCTV nicht zu gewinnen – aber der Kampf um zivile Freiheiten, das Recht auf Privatheit und die Autonomie des öffentlichen Raums ist damit so gut wie verloren. DIETMAR SCHIRMER