: Gerhard war da
VON GEORG LÖWISCH
Berlin. Am Ende hat der Referent vom Kanzler dann doch etwas gedrängelt. Der Chef musste ja zu einer Filmpreisverleihung. Und nun saß er schon eine Dreiviertelstunde am Gartentisch im Kleingarten von Bernhard Ziemen. Sie haben Liebstöckelschnaps getrunken, über den Krieg gesprochen, über Ziemens Zeit als Techniker bei Telefunken und über die Schicksalsschläge des Lebens. „Ich würde ja bleiben, aber ich muss leider“, hat Schröder gesagt und im Familienalbum für die Gastfreundschaft gedankt.
Bernhard Ziemen klappt das Album zu. „Ach ja, unser Buka“, sagt er. Die Sonne scheint, der Urenkel schleppt Spielzeug herum, eine Libelle fliegt vorbei. Hier machte im Wahlkampf vor drei Jahren der Bundeskanzler Station. Jetzt ist wieder Wahlkampf, der Besucher von damals liegt in den Umfragen viel weiter hinten als 2002 und selbst seine wichtigsten Minister schreiben ihn ab. Aber Bernhard Ziemen nicht. „Ick sage: Das geht noch mal, er soll das zu Ende führen. Die Reformen müssen ja auch erst wirken. Ja sollen denn die anderen wieder bei Adam und Eva anfangen?“
Der Besuch beim Sommerfest der Kleingartenkolonie „Abendruh“ in Berlin-Lichterfelde gehörte zu den Höhepunkten des Wahlkampfes 2002. Eine perfekte Geschichte: Während Edmund Stoiber Akten frisst, beißt Gerhard Schröder in eine Bratwurst und lauscht den Sorgen der Laubenpieper. Da drängelten sich die Fotografen und Kameraleute auf den schmalen Wegen von „Abendruh“. Als Schröder eintraf, wurde er neben Bernhard Ziemen platziert, weil kein anderer seine Parzelle schon 64 Jahre gepachtet hatte. „Ich bin Gerhard“, war das Erste, was Schröder sagte. „Ick bin Bernhard“, antwortete Ziemen.
Der Kanzler lobte die Kleingärtner, kritzelte Autogramme und schmetterte das Lied von den Caprifischern. Er setzte sich mit Ziemens in den Liegestuhl und die Fotografen knipsten, was das Zeug hielt. „Dann haben wa uns hier hinter die Hecke ins Kanzlereck zurückjezogen und uns hundertprozentig privat unterhalten“, erzählt Ziemen. 45 Minuten, keine Fotografen. „Wie mit einem Freund. Oder einem Bekannten.“
Er nimmt einen Schluck Dornfelder aus seinem Henkelglas. Er ist jetzt 84, jedes Frühjahr fliegt er nach New Orleans und im Sommer geht es im Autoreisezug an den Wörthersee. „Det ist ja das Problem. Wir werden nun immer älter, 30, 40 Jahre kriegen wir Rente und alle wollen den Standard aufrechterhalten. Bestimmt trifft es auch uns Alte und ich bin auch bereit, Opfer zu bringen.“
Ziemen schenkte Schröder eine Zigarre, weil er vom Cohiba-Kanzler gelesen hatte. Keine sieben Tage später kam ein Päckchen vom Kanzleramt mit 25 Havannas und einem Dankesbrief mit Schröders Unterschrift. Ziemen hat zurückgeschrieben, darauf antwortete nur noch ein Mitarbeiter. „Er musste ja damals auch gleich nach Kanada und nach Japan“, sagt Ziemen.
Die Zigarren spart er sich für besondere Anlässe auf. Beim Wahlsieg 2002 war eine fällig. „Bei der Wiederwahl wird wieder eine geroocht.“
Frankfurt/Main. Kann er es wirklich noch mal schaffen? Bernd Schickling meint schon. Er war schließlich dabei, als Schröder das erste Mal als Coup-Kanzler gefeiert wurde. Es war der 24. November 1999. Das Jahr hatte mit einer SPD-Niederlage bei der Hessen-Wahl begonnen, dann schmiss Lafontaine hin und bald träumte die CDU von neuer Regierungsmacht. An jenem 24. November befand sich Bernd Schickling in einem Pulk von Männern mit gelben Regenjacken und Bauarbeiterhelmen. Es war längst dunkel und sie hatten Stunden in der Kälte vor der Frankfurter Zentrale des Baukonzerns Philipp Holzmann gewartet. Da stieg der Mann aus Berlin auf einen Lastwagen und donnerte: „Liebe Freunde, wir haben es geschafft!“ – „Gerhard! Gerhard!“, jubelten Schickling und seine Kollegen, sie sangen: „So ein Tag, so wunderschön wie heute.“
Schickling ist ein kleiner Mann mit Vollbart und freundlichen Augen. Er hat bei Holzmann Maurer gelernt, in seiner Lehrzeit in den Siebzigern war er beim Wiederaufbau der Frankfurter Oper dabei. Er baute Bürotürme in den Himmel und Kanaltunnel unter die Erde. Dann wurde er Betriebsrat. Als das Unternehmen zusammenzubrechen drohte, holte Schickling die Kollegen aus ganz Deutschland nach Frankfurt. Er zeigt jetzt Fotos, auf denen Menschen mit roten Holzmann-Fahnen im Laternenlicht durch Frankfurt ziehen. „Das hab also dann ich gemacht.“
Die Verhandlungen des Holzmann-Vorstands mit den Banken scheiterten. Bild grollte. Dann flog Schröder mit einer Bundeswehrmaschine nach Frankfurt, drohte den Bankern mit dem Zorn der Öffentlichkeit und stellte 250 Millionen Mark bereit. Das zog. In einer Zeit, in der Daimler-Benz mit Chrysler fusionierte und die Hoechst AG mit irgendwelchen Franzosen, deren Name kein Hesse aussprechen konnte, hatte der Kanzler sich der Macht des Marktes entgegengestellt. Bernd Schickling sagt: „Es war ein vorgezogenes Weihnachtsgeschenk.“
Holzmann ist dann doch zusammengebrochen. Im Frühjahr 2002. Schickling kümmerte sich frühzeitig um eine neue Stelle. Jetzt kontrolliert er für die Berufsgenossenschaften, ob die Häuslebauer im Rhein-Main-Gebiet ihre Versicherung bezahlt haben. Er hat Glück, viele andere Kollegen sind arbeitslos. Trotzdem denkt Schickling, dass die meisten dem Kanzler dankbar sind. Er wird ihn jedenfalls wählen und er glaubt auch, dass Schröder es noch schaffen kann. Sowieso, sagt er, werde heute nicht mehr so viel über Politik geredet. Aber dann wird er doch noch entschlossen. „Politiker können vielleicht mal einen Anstoß geben wie bei uns damals. Aber wer schafft denn die Arbeitsplätze? Die Unternehmen. Und die verlagern doch die Jobs.“
Als Holzmann pleite war, haben Schickling und seine Kollegen noch einmal demonstriert. Sie zogen auch zur Baustelle des neuesten Dresdner-Bank-Hochhauses. Schröder stieß dort beim Richtfest gerade mit den Vorständen an. Plötzlich wurden Schickling und der Betriebsratsvorsitzende zum Kanzler gebeten. Er sprach mit ihnen, ein Geschenk hatte er diesmal nicht. Schickling fand ihn dennoch glaubwürdig.
Hamburg. „Holzmann war ein Paradebeispiel“, sagt Udo Röbel. „Wirtschaftlich total unvernünftig, aber er hat gepunktet, weil er zur richtigen Zeit, am richtigen Ort das Richtige gesagt hat.“ Röbel war damals Chefredakteur bei Bild, „Rettung in der Nacht“ titelte er. Es war einer der Momente, in denen er spürte, dass Schröder reagiert, wenn Bild Druck macht.
Röbel ist inzwischen nicht mehr bei der Zeitung, er sieht den Job jetzt kritisch. Das wirkt etwas merkwürdig angesichts der eingerahmten Schlagzeilen: „Lafontaine greift zur Keule“, „Mick Jagger und das Sex-Luder“. Aber der 55-Jährige sieht ausgeruht und zufrieden aus in seinem Büro mit den Archivkartons und dem Autoreifen auf dem Boden. Er zündet sich eine Marlboro an. „Die Medien hämmern uns irgendetwas ein, die Politik spielt mit, und dann kommt das nächste Thema. Auch Schröder ist mitverantwortlich, dass sich dieses irrsinnige Karussell immer schneller dreht.“
Röbel traf Gerhard Schröder zum ersten Mal im Januar 1998. Der Bild-Chef war gerade zwei Tage im Amt, da hatte das Büro des damaligen niedersächsischen Ministerpräsidenten schon ein Abendessen ausgemacht. Die beiden trafen sich in Hannover im „Roma“, Schröders Lieblingsrestaurant. Sie sprachen über ihre Herkunft, über Rock und Blues, und Röbel erzählte von seinen Recherchen zur Mafia. Es wurde ein langer Abend mit viel Rotwein und Grappa, und manchmal fiel Schröder ins Du. Kurze Zeit später lud ihn der Kanzler zu seiner Hochzeit ein, da sagte Röbel lieber ab. Doch der Mann hat ihn fasziniert. Er hat einen Krimi geschrieben, in dem ein Kanzlerkandidat die Hauptrolle spielt, der Schröder ähnelt. Wenn Udo Röbel da an Merkel denkt! „Unverbindlich“, „Blutleer“, „irgendwie maskenhaft“. Er wird Schröder wählen. Obwohl er genau weiß, wie schlecht die Chancen stehen. „Das fällt bei mir unter die Abteilung Herz“, sagt Röbel. „Ich empfände es als Verrat an unserer Generation, diese Flanellhosentypen zu wählen. Die Winner-Generation, die versucht, uns einen Tritt in den Arsch zu geben.“
Grimma. Bürgermeister Matthias Berger läuft in sein Amtszimmer und wirft sich in den schwarzen Drehsessel. „Hamse Schröder bei Christiansen gesehen? Medial genial!“ Der Drehsessel federt ihn wieder auf die Beine, Berger scheucht seine Hündin Senta ins Vorzimmer und kommt mit zwei Fotobänden zurück. Der 37 Jahre alte Sachse zeigt die Bilder von der Flut im August 2002. Es sieht aus wie nach einem Bombenangriff: aufgerissene Häuser, zerstörte Geschäfte. „Und das war er gewesen.“ Gerhard Schröder, in Gummistiefeln und grünem Anorak, zieht ein ernstes Gesicht. „Und das ist meiner einer“, sagt Berger. Der Kanzler ließ sich vom Bürgermeister durch die verwüstete Stadt führen, kündigte Hilfe an und sagte in die Kameras: „Das sind Eindrücke, die man nie vergisst.“ Die Grimmaer vergaßen ihn auch nicht. Bei der Wahl gewann die SPD in Bergers Stadt zehn Prozent hinzu.
Die Flut und der Wiederaufbau waren für Matthias Berger eine gute Zeit. Es war eine Katastrophe, doch sie haben sie gemeistert. Stunde null, er leitete den Krisenstab, die Leute packten sieben Tage die Woche an. Und heute? „Man hat sich einen Impuls erhofft. Tatendrang und Ideen statt Gejammer. Aber jetzt ist so langsam wieder alles verboten, was nicht erlaubt ist. Das macht mich wahnsinnig.“
Der Bürgermeister verrät nicht, wen er wählen wird. Er ist parteilos. Schröder hat ihn beeindruckt. Er ist Bergers Kanzler, wenn er im Hubschrauber einfliegt, wenn er im Fernsehen sagt, wo’s langgeht. Aber er ist nicht sein Kanzler, wenn er versucht, die Interessen auszutarieren, und in den Vermittlungsrunden stecken bleibt. „Die hatten jetzt sieben Jahre Zeit.“ Sieben Jahre! Berger hat Grimmas gesamte Dezernentenriege schon nach sieben Monaten entlassen, ihre Stellen sind ersatzlos gestrichen.
Schafft er es? Der Flutkanzler? Der Medienkanzler? Der Krisenkanzler? Rational gesehen nicht.