: Eine Stimme voller Würmer
COUNTRY NOIR In „Der Tod von Sweet Mister“ entwirft Daniel Woodrell eine düstere Sozialhölle ohne Ausweg. Am Mittwoch liest er aus seinem kompromisslosen Roman
VON MICHAEL SAAGER
Romananfänge sind eine Kunst für sich, nicht ohne Grund werden sie in speziellen Seminaren für kreatives Schreiben gelehrt – aber ob man sie dort wirklich erlernen kann? Ein Mann großartiger erster Sätze ist der US-amerikanische „Country-Noir“-Schriftsteller Daniel Woodrell. „Ree Dolly stand bei Tagesanbruch auf den kalten Stufen ihres Hauses, roch drohendes Schneetreiben und sah Fleisch.“ So beginnt „Winters Knochen“, der erste ins Deutsche übertragene Roman Woodrells. Die Verfilmung des Buches (als „Winter’s Bone“) über das knallharte Leben in der gewaltgesättigten Drogen- und Männerwelt im Bergland der Ozarks war vor zwei Jahren ein Riesenerfolg, auch hierzulande. Berühmter als den 1953 geborenen Autor machte die Kinoadaption freilich die junge Hauptdarstellerin Jennifer Lawrence, die seitdem überall mitspielt.
„Als wir die Staatsgrenze überquert hatten, sagte Red, ich solle aussteigen und den Pick-up in eine andere Farbe umlackieren. Seine Stimme schien für mich immer voll von diesen Würmern zu sein, die einen fressen, wenn man tot ist. Seine Stimme wollte mich diesen wartenden Würmern vorstellen.“ So beginnt „Der Tod von Sweet Mister“, der zweite, abermals von Peter Torberg ohne Reibungsverluste in ein lakonisch-poetisches, makellos klares Deutsch übertragene Roman.
Wieder entwirft der in St. Louis und Kansas City aufgewachsene Autor mit ein paar Sätzen die komplexe Ahnung einer Welt in den Bergen Missouris, in der das Schöne äußerst rar sein dürfte. Wieder mit der präzisen Wucht eines Kinnhakens. In diesem von permanenten verbalen Anfeindungen, sexuellen Übergriffen, alltäglicher häuslicher und schließlich blutig eskalierender Gewalt durchtränkten Familiendrama antiker Wucht wird es sogar noch finsterer als beim ersten Mal. Da ist kein Licht am Ende des Tunnels, nicht mal ein entgegenkommender Zug, dem man immerhin ausweichen könnte.
Gemeinsam mit der Hauptfigur, dem dreizehnjährigen Ich-Erzähler Shug Akins, der von seiner Mutter zärtlich-verspielt „Sweet Mister“ genannt wird, rutschen wir zügig tiefer und tiefer in eine extrem ungemütliche Sozialhölle: Vor der schnellen harten Linken Reds, seines Vaters, muss Shug stets auf der Hut sein. Die Einbrüche, die der Junge begeht, hasst er ebenso wie Red, diesen schmierigen, hinterhältigen, verlogenen Hund, der ihn zwingt, Todkranken die Medikamente unterm Hintern wegzuklauen, damit er sich zudröhnen kann.
Shug ist übergewichtig und hat keine Freunde. Die jugendliche, von Woodrell bemerkenswert sensibel beschriebene Gefühlswelt, gleicht einem Chaos. Das liebevolle Verhältnis zu seiner Mutter Glenda – eine bildschöne, leider alkoholkranke Frau – erweist sich als trügerische, zusehends gefährliche Stütze.
Woodrell, neben Denis Johnson und Cormac McCarthy einer der bekannteren amerikanischen Poeten des White Trash, erzählt in beiden Coming-of-Age-Romanen leitmotivisch vom Verlust der Unschuld. Doch während das Mädchen Ree aus „Winters Knochen“ zweifellos schreckliche Dinge tun muss, um zu überleben, behauptet es sich am Ende, einem hartnäckig flackernden Lichtlein in windumtoster Dunkelheit gleich, gegen alle äußeren Widerstände – und bleibt dabei auf der guten Seite. „Winters Knochen“ ist die spannende, wenn auch etwas unglaubwürdige Geschichte einer mutigen Selbstbehauptung.
Shug hat weniger Glück. Die Welt, der er so gern entfliehen möchte, lässt ihn nicht entkommen, nicht einmal erwachen. Schlimmer noch: Er selbst ist diese Welt. Dass das Ende von „Der Tod von Sweet Mister“ unvermeidbar und überraschend zugleich ist, demonstriert einmal mehr die literarische Klasse dieses kompromisslosen Buches. Romanenden sind eine Kunst für sich. Man reibt sich erschrocken die Augen.
■ „Der Tod von Sweet Mister“ ist bei Liebeskind erschienen (192 Seiten, 16,90 Euro). Lesung im Rahmen des Harbour Front-Festivals: Mi, 12. 9., 20 Uhr, MS Bleichen, Australiastraße