: „Es sind Exzesstaten“
TOTTRETEN Wer andere tottritt, weiß in der Regel, was er tut – sagt der Bremer Staatsanwalt und Rechtswissenschaftler Daniel Heinke. Ein Gespräch über mediale Klischees, archaische Gewalt und härtere Strafen
35, ist seit 2003 Staatsanwalt in Bremen, zuletzt als Sonderdezernent für Kapitalverbrechen und Todesursachenermittlung. Seine berufsbegleitend an der Uni Bremen erarbeitete Promotion „Tottreten – eine kriminalwissenschaftliche Untersuchung von körperlichen Angriffen gegen Fuß und Thorax“ wurde mit „magna cum laude“ (sehr gut) bewertet. Seit 2008 ist er Büroleiter beim bremischen Innensenator Ulrich Mäurer (SPD). Foto: mnz
INTERVIEW JAN ZIER
taz: Warum erforschen Sie das Tottreten, Herr Heinke?
Daniel Heinke: Auslöser war ein spezifischer Fall, den ich als Staatsanwalt zu bearbeiten hatte. Damals haben mehrere Jugendliche einen Mann aus nichtigem Anlass angegriffen und auf ihn eingetreten, als der schon am Boden lag. Das war für mich ein so archaisches Ausagieren von Gewalt, dass ich das auch wissenschaftlich aufarbeiten wollte.
Werden heute öfter Menschen totgetreten als früher oder wird intensiver darüber berichtet?
Es liegen mir keine empirischen Daten vor, die eine Zunahme belegen würden. Das Delikt gab es immer wieder. Es kommt häufiger – aber anders – vor, als man gemeinhin denkt. Meine Untersuchung belegt, dass Tottreten gerade kein Delikt ist, das typischerweise von Jugendlichen an vollkommen Unbeteiligten begangen wird. Was jetzt in den Medien regelmäßig berichtet wird, ist nicht phänotypisch für das Delikt.
Wie oft kommt es vor, dass jemand totgetreten wird?
Es gibt keine bundesweiten statistischen Daten, weil das nicht gesondert erfasst wird.
Wie sieht das Täterprofil aus?
Typischerweise ist es eine Beziehungstat zwischen Menschen, die regelmäßig aus schwierigen sozialen Milieus kommen. Meistens geschieht sie unter erheblichem Alkoholeinfluss. Aus nichtigem Anlass kommt es zu einem Streit, der dann eskaliert. Die weit überwiegende Zahl der TäterInnen ist männlich, die Altersspanne reicht vom Jugendlichen bis zum über 50-Jährigen. In der Regel sind es Einzeltäter, sehr selten mehr als zwei.
Gehört zum Tottreten ein kräftiger Mann in Stiefeln?
Nein. Die Täter können leicht, klein und sportlich untrainiert sein, Hausschuhe tragen oder sogar barfuß sein – und sind trotzdem in der Lage, einen Menschen zu töten. Die Verletzung, die jemand davon trägt, sind auch kein tauglicher Indikator dafür, wie gefährlich die Tritte waren. Ob er den am Boden Liegenden an der Stirn trifft – wo es oft glimpflich ausgeht – oder am Nasenbein, was schnell tödlich enden kann, das hat der Täter nicht mehr unter Kontrolle.
Geschehen die Taten im Affekt oder planvoll?
Zumindest in den von mir untersuchten Fällen sind das nahezu ausschließlich Exzesstaten.
Wissen die Täter, wie gefährlich ihre Tritte sind?
Jeder Angeklagte – wenn er denn gut beraten ist – wird erklären, ihm sei nicht bewusst gewesen, wie gefährlich der Tritt war. Das war meist nur schwer zu widerlegen, weswegen es dann in der weit überwiegenden Anzahl der Fälle zu einer Verurteilung wegen Körperverletzung, schwerer Körperverletzung oder Körperverletzung mit Todesfolge kam. Meine Arbeit hat jetzt aber ergeben, dass über 90 Prozent der Befragten sagen, dass sie das für „lebensgefährlich“ halten, weitere neun Prozent halten es zumindest für „sehr gefährlich“. Und über ein Drittel der Befragten erwartet bei Tritten gegen den Kopf den Tod oder lebensgefährliche Verletzungen.
Was hat das für rechtliche Konsequenzen?
Man wird davon ausgehen müssen, dass in der Bevölkerung regelhaft bekannt ist, dass so ein Tritt tödliche Verletzungen nach sich ziehen kann. Ein Richter kann also davon ausgehen: Üblicherweise weiß man das. Dann käme auch eine Verurteilung wegen versuchten Totschlags oder sogar versuchten Mordes in Frage. Das heißt natürlich nicht, dass der Täter in jedem Einzelfall das auch gewusst hat. Aber der Angeklagte hat jetzt eine deutliche erhöhte Darlegungspflicht, will er für sich in Anspruch nehmen, es nicht gewusst zu haben.
Würden Sie einen generellen Tötungsvorsatz unterstellen?
Nein, das wäre verfehlt.
Ihre Aussage beruht auf der Befragung von 830 Rekruten im Alter von 18 bis 23. Wir repräsentativ sind die?
Auf die reine Anzahl der Befragten kommt es nicht an. Sie sollten ganz überwiegend männlich sein – wie die Täter auch. Zudem sollten es möglichst junge Männer sein: Je älter man wird, je mehr Wissen akkumuliert man. Und es sollten sämtliche Abschlüsse unseres Bildungssystems vertreten sein. Um Verzerrungen zu vermeiden, habe ich sie zu Beginn ihres Grundwehrdienstes befragt, wenn sie noch nicht militärisch ausgebildet sind. Repräsentativ ist die Auswahl nicht, denn das würde eine Zufallsauswahl voraussetzen.
Kann man die Aussagen der Rekruten auch auf den alkoholisierten Exzesstäter übertragen?
Gerade bei starker Alkoholisierung verlieren die Menschen nicht ihre kognitiven Fähigkeiten. Der Täter weiß immer noch, was er tut. Er ist nur sehr viel schneller bereit, auch zu handeln. Dennoch muss man möglicherweise die Alkoholisierung schuldmindernd anerkennen.
Sind Sie für härtere Strafen?
Das Strafmaß hat mich bei meiner Untersuchung gar nicht interessiert. Ich glaube aber nicht, dass gerade im Jugendstrafrecht eine Erhöhung des Strafrahmens hilft. Es muss vor allem schnell und deutlich eine entschiedene staatliche Reaktion erfolgen. Das ist unter Experten unstrittig. Die Strafe muss dabei nicht hart sein. Ein Freizeitarrest für ein Wochenende, der drei Wochen nach der Tat ausgesprochen wird, ist meiner Meinung nach deutlich effektiver als zwei Jahre auf Bewährung in einem Urteil ein Jahr nach der Tat.