piwik no script img

Archiv-Artikel

„Das Unglück ist mysteriös“

Luftfahrtexperte Clemens Bollinger: Druckabfall ist unwahrscheinlicher als terroristische Übergriffe

taz: Herr Bollinger, kennen Sie ähnliche Flugzeugabstürze wie den jetzigen?

Clemens Bollinger: Das Unglück in Griechenland ist mysteriös. Vermutet wird ein Druckabfall. Meines Wissens hat es den bislang nur bei einer Lockheed Tristar von Delta Airlines gegeben. Das war 1995. Damals konnte die Crew das Flugzeug sicher landen.

Auslöser für den Boeing-Absturz soll die defekte Klimaanlage gewesen sein. Wie oft kommt so eine Panne vor?

Gott sei Dank extrem selten. Normalerweise wird aus den Triebwerken Druckluft entnommen. Diese Luft wird abgekühlt und dann in die Kabine geführt. Was sich einfach anhört, wird kompliziert über Regler und Ventile gesteuert. Das System ist doppelt und dreifach abgesichert.

Was muss passieren, damit es doch eine Katastrophe gibt?

Das Notsystem des Notsystems versagt. Eigentlich werden Passagiere und Piloten getrennt mit Sauerstoff versorgt.

Wieso waren die Piloten schon ohnmächtig, als die Passagiere offenbar noch SMS schickten?

Das ist ein echtes Rätsel. Ein Druckabfall tritt in der Kabine und im Cockpit immer gleichzeitig auf. Die Piloten sind für den Notfall trainiert. Sie greifen sofort nach der Atemmaske. Dann steuern sie das Flugzeug aus der großen Höhe, wo die Luft für den Menschen zu dünn ist, in niedrigere Schichten. Dort, in 3.000 Metern, kann jeder wieder normal atmen.

Wie viel Zeit haben die Piloten, um zu reagieren?

20 bis 30 Sekunden. Herrscht ein Leck in der Kabine, sinkt der Luftdruck explosionsartig ab.

Warum greifen die Stewardessen im Notfall nicht ein?

Auf den Gedanken bin ich noch nie gekommen. Die Stewardessen sind nicht dafür ausgebildet, das Steuer zu übernehmen.

Könnte ein Flugzeug vom Boden ferngesteuert zur Landung gebracht werden?

Aufklärungsdrohnen und unbemannte Kampfflugzeuge können ferngesteuert fliegen. Aber es gibt auf der ganzen Welt kein Zivilflugzeug, das dafür hergerichtet wäre. Dafür müsste das gesamte Luftfahrtsystem umgebaut und geregelt werden, wer unten das Steuer für welche Flugphase übernehmen würde.

Seit dem 11. 9. haben viele Airlines den Durchgang zum Cockpit mit Panzertüren abgeriegelt. Selbst wenn es einen Hobbypiloten unter den Fluggästen gäbe, könnte er nicht eingreifen. Ist das sinnvoll?

Die Wahrscheinlichkeit eines Druckabfalls ist unendlich klein gegenüber der Möglichkeit eines terroristischen Übergriffs. Außerdem kann auch der Sportflieger nicht so ohne weiteres eine Boeing landen. Die jetzige Regelung sollte bleiben.

INTERVIEW: HANNA GERSMANN