: Schallücks Suche nach dem verlorenen Seelenheil
ALTMEISTER Traumgesteuerte Liebesgeschichte: die Erzählung „Glück ist ein vorübergehender Schwächezustand“ von Tankred Dorst
Ich will nicht schlafen. Wenn ich schlafe, sagte Laura ernst, weiß ich nicht, dass ich glücklich bin.“ Das sind zwei der schönsten Sätze in Tankred Dorsts Erzählung „Glück ist ein vorübergehender Schwächezustand“. Gesprochen von einem fünfzehnjährigen Mädchen, das noch hat, was dem Schauspieler Schallück fehlt, um glücklich sein zu können: die Gnade der Unschuld. Der körperlichen Unschuld, versteht sich. Aber die ist nur ein Symbol, so wie alles in diesem Buch literarisches Symbol eines ästhetischen Gedankens ist.
Der Büchner-Preisträger Tankred Dorst, mit 83 Jahren immer noch einer der produktivsten deutschen Theaterautoren, hat ein Buch über die Möglichkeit glücklichen Lebens geschrieben. Und über das Theater. Bei Dorst unterhalten die beiden eine tragische Beziehung: Das Theater als seine künstlerische Widerspiegelung gibt dem Leben seine Fülle, beraubt es aber seiner Unmittelbarkeit.
Wie Dorsts meistgespieltes Stück „Merlin oder Das weite Land“, eine Bearbeitung der König-Artus-Sage, ist sein neuer Text eine Gralsgeschichte. Schallück ist ein nicht mehr ganz junger Schauspieler, der in ästhetisch unerheblichen Inszenierungen spielt, aber ansonsten nicht klagen müsste: schöne Freundin, wechselnde Geliebte, ein bisschen Ruhm. Doch hat ihn, trotz und wegen aller erotischen Abwechslung, ein tiefer Ekel vor der niederträchtigen Banalität des Alltags erfasst: „Das Wunderbare verflüchtigt sich.“
Plötzlich Laura. „Der Kopf hebt sich, dunkel fließen die Haare von der Stirn über die Schulter, hell, so hell taucht das Gesicht auf, und wie aus schwarzen Fluten emporgestiegen schlägt sie die ernsten Augen auf und sieht mich an.“ Ein schattenhaft-schönes Wesen, das kaum je spricht und Schallück hysterisch verehrt.
Ihre Liebesgeschichte entwickelt sich wie traumgesteuert. Selbst die Eltern behalten ihre Einwände für sich; vielmehr gibt sich auch Lauras Mutter Elisabeth ihm hin, als alle drei Urlaub auf Bali machen.
Psychologisch ist das alles nicht nachvollziehbar. Aber darum geht es auch nicht. Die Geschichte spiegelt Schallücks Suche nach dem verlorenen Seelenheil in seine Umwelt, ist eine im balinesischen Tropenlicht flimmernde Halluzination seines verlorenen Ich. Auf Rousseau, dem zufolge dem Schauspieler sein eigenes Ich in dem Maße abhanden kommt, in dem er sich in andere Rollen versenkt, antwortet Schallück: „Schauspieler wird man, weil man geliebt werden will.“ Da ist der unüberwindbare Lebenswiderspruch: Denn wie kann etwas so Fragiles, Flüchtiges wie das Ich dauerhafte Liebe erfahren?
Schallücks Verhältnis mit dem Mädchen folgt einer berühmten Vorlage. Das Problem hat Kleist in seinem Marionettentheater-Aufsatz beschrieben: Der Schauspieler ist vom Virus der Selbstreflexion infiziert, das Kind hingegen hat sich die Anmut der Unschuld erhalten. Diese korrumpiert zu haben, darin besteht Schallücks Frevel: „Ich habe ihre Leidenschaft benutzen wollen, um mich zu neuem Leben zu erwecken.“
Der Strudel der Selbstreflexion reißt auch den Text selbst mit sich; alle Figuren sind theoretisch und literarhistorisch determiniert. Sie wirken leer, so als müssten sie, wie auf der Bühne, im Nachhinein noch mit Leben gefüllt werden. Große Plastizität hingegen erreicht der Autor dort, wo er die Seelenlandschaften seines Helden beschreibt. Wenn am Schluss mit einer großen pathetischen Geste Apokalypse und Jüngstes Gericht, Erlösung und Höllenfahrt zugleich stattfinden, dann ist das großes Theater.
ARIANE BREYER
■ Tankred Dorst: „Glück ist ein vorübergehender Schwächezustand“. Suhrkamp, Frankfurt a. M. 2009, 159 S., 19,90 Euro