Clan & Demokratie

POLITISCHE DYNASTIEN Sie sind Relikte aus einer alten Zeit, aber auch im Westen erstaunlich präsent

Aussichtsreich sind die Versuche in einer Reihe islamischer und arabischer Länder

VON CHRISTIAN SEMLER

Bekannte Gesichter – Gemischte Gefühle“ – so etwa könnte die Reaktion vieler Griechenlandfreunde letzte Woche angesichts der Ergebnisse der Parlamentswahlen zusammengefasst werden. Eine korrupte und unfähige konservative Regierung wurde abgewählt, die sozialdemokratische Pasok errang die absolute Mehrheit. Ein ganz normaler Regierungswechsel in einer ganz normalen Demokratie? Nicht so ganz.

Denn der Sieger, Georgios Papandreou, ist der Sohn des zweifachen Premierministers Andreas Papandreou und der Enkel Georgios Papandreous, ebenfalls Premierminister bis zum Offiziersputsch von 1968. Auch die Verliererseite hat einen berühmten Vorfahren vorzuweisen. Der abgewählte Premier Kostas Karamanlis ist der Neffe von Konstantin Karamanlis, der zweimal, nach dem Bürgerkrieg der Vierzigerjahre und nach dem Sturz des Militärregimes 1974 zum autokratischen Herrscher Griechenlands wurde. Die dritte große Familie Griechenlands, die Mitsotakis/Bakogiannis haben ebenfalls einen Premierminister auf ihrem Konto. Sie kann zudem auf die Verwandtschaft mit dem bedeutenden Staatsmann Elephteros Venizelos aus der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts verweisen. Ihre zahlreichen Mitglieder im politikfähigen Alter verhelfen im Familienwettbewerb zu einer günstigen Ausgangsposition bei künftigen Wahlen.

Nicht zu Unrecht spricht man hier von einem fortdauernden Clansystem und klientelistischen Machtbeziehungen.

Als Clan wird in der Ethnologie eine durch reale oder eingebildete Verwandtschaft zusammengehaltene Gruppe bezeichnet. Im Fall Griechenlands verfügen die drei führenden Clans über zahlreiche Klienten, die sie schützen und versorgen. Den Clans, nicht den politischen Parteien gehört in erster Linie die Loyalität ihrer Anhänger.

Nicht nur materielle Vorteile bestimmen die Loyalität. Der Führer muss auserwählt sein. Und sein Charisma muss weiterwirken, am Besten durch Blut und Gene. 2004, als Georgios Papandreou die Nachfolge des großen Charismatikers Andreas Papandreou antrat, riefen die Anhänger der Pasok „Andreas, du lebst noch immer, du führst uns!“ Bei dieser Legitimitätsübertragung war es unerheblich, dass Georgios Papandreou ein nüchterner Anticharismatiker mit bescheidenen Ziel ist: Er will Griechenland „sein Lächeln zurückgeben“.

Trotz ihres fortdauernden Erfolgs ist die Herrschaft rivalisierender Clans unter demokratisch-kapitalistischen Bedingungen eine prekäre Angelegenheit. Sie beruht auf der Schwäche des Staats und dem Misstrauen ihm gegenüber. Aber das Charisma der Clanchefs, die von dieser Schwäche profitieren, lässt sich nicht beliebig erneuern. Der Zugriff auf die Ökonomie und damit die Versorgung der Schutzbefohlenen wird in dem Maße schwieriger, in dem kein aufgeblähter Staatssektor zur Verfügung steht. Durch Aufkauf oder Einschüchterung kann eine demokratische Öffentlichkeit jenseits der Clan-Medien nicht auf Dauer verhindert werden. Die großen politischen Familien sind ein Übergangsphänomen zum entwickelten Kapitalismus. Wo sie noch eine Zeitspanne vor sich haben, wie in Indien, ragen sie als Traditionsbestände in die Moderne. Bald werden sie nur noch Bestandteil der großen Erzählungen von Aufstieg und Fall sein.

Im Gegensatz zur Clanherrschaft unter den Bedingungen des entwickelten Kapitalismus hat die Clanherrschaft in realsozialistischen und postsozialistischen Gesellschaften noch beträchtliche Zukunftsaussichten. Unter den zahlreichen, in den letzten Jahrzehnten etablierten Regimen dieser Art hat sich eine Variation als besonders stabil erwiesen: die dynastische Erbfolge unter republikanischer Fassade.

Dabei bietet das allseits beliebte, weil so unglaublich bizarre Lehrbeispiel Nordkoreas nur einen begrenzten Erklärungswert. Dort wird gerade der Vorsitz von Partei und Staat in der dritten Generation auf Kim Jong Un, den jüngsten Sohn des „geliebten Führers“ Kim Jong Il übertragen, der seinerseits den Staatsgründer, den „großen Führer“ Kim Il Sung beerbte. Das Land wird von einer Dauerinszenierung beherrscht. Vollständige Abschottung und die Staatsideologie einer sich selbst genügenden nordkoreanischen „großen Familie“ sind die Voraussetzung für diesen Führerkult. Dessen religiöse Züge sind unübersehbar, sie zeigen sich an der Verehrung heiliger Orte, die die Führer aufsuchten, an ihrer Allwissenheit, ihrer Allgegenwärtigkeit über den Tod hinaus.

Zwar kann sich das nordkoreanische Regime dabei in manchem auf den Traditionsbestand der alten koreanischen Monarchie stützen und den Hass der Koreaner auf ihre einstigen kolonialen Unterdrücker nutzen. Diese Legitimationsreserve ist jedoch nicht beliebig erneuerbar. Sie schwindet mit dem permanenten Elend in Nordkorea. Die Dynastie der Kims ist steril, unflexibel, lernunfähig. Ihre Stärke macht ihre Schwäche aus. Die aufgezwungene Isolation des Landes gegenüber der Welt und dem Weltmarkt wird nicht durchgehalten werden können.

Viel aussichtsreicher sind da die Versuche in einer Reihe islamischer und arabischer Länder mit vormals sozialistischer Ausrichtung, Herrscherdynastien zu begründen, die sich einer republikanischen Camouflage bedienen wie die vormaligen Sowjetrepubliken Zentralasiens und das transkaukasische Aserbaidschan. Unter der sowjetischen Oberfläche behielten hier traditionale Stammes- und Familienstrukturen ihren Einfluss. Der Kommunismus als Ideologie war nur Firniss. Höchst real aber war der Macht- und Repressionsapparat in den einstmaligen Sowjetrepubliken. Ihn nutzten die vormals kommunistischen Parteichefs, um jetzt unter „nationalen“ Vorzeichen die Macht zu ergreifen. Ihnen half die traditionale Gesellschaftsstruktur dieser Länder, die die Rolle des Führers als quasi organisch verstand, inklusive Erbfolge. Die bestehenden republikanischen Institution dienen als Konzession gegenüber dem „Westen“.

Im Fall Griechenlands verfügen die drei führenden Clans über zahlreiche Klienten

Die Erbfolge wurde auch dadurch vorbereitet, dass die Söhne zunächst einflussreiche Positionen in der Rohstoffökonomie innehatten. Ilham Alijew, jetzt der Nachfolger seines Vaters Haidar Alijew, war vor seiner „Inthronisation“ Vizepräsident der aserbaidschanischen Erdölindustrie und verfügte damit über gute Beziehung zu den „westlichen“ Mächten.

Das Zauberwort zur Erklärung der Unterstützung, die die erblichen Clanherrschaften seitens des Westens erfahren, heißt Stabilität. Stabilität des Herrschaftssystems, Stabilität der Rohstofflieferungen. Sie soll dadurch garantiert werden, dass die Clans sich mit einem Teil der Rohstofferlöse Loyalität bei ihrer Bevölkerung erkaufen. Sei es – noch wichtiger –, dass sie mit eiserner Faust gegen religiöse Fundamentalisten vorgehen. Sie sind eben Verbündete im weltweiten „Krieg gegen den Terror“.

Gut, das alles geschieht weit, weit weg von uns und tangiert die Öffentlichkeit nur, wenn von Pipelines die Rede ist. Was aber, wenn das Libyen Gaddafis, das der der EU unmittelbar vor der Nase sitzt, seine tyrannische Regierung mittels Erbfolge in Gestalt einer seiner Söhne fortsetzt?

Wird dann das Bedürfnis nach „stabilen Verhältnissen“, sprich: gesicherten Öl- und Gaslieferungen ein weiteres Mal den Sieg über Demokratie und Menschenrechte davontragen? Ein letztes Argument für den schnellen Übergang zu erneuerbaren Energien.