piwik no script img

Der Wind als schöne Kraft

Vom zerstörerischen und schöpferischen Potenzial der Naturgewalten: Das Sprengel-Museum in Hannover widmet der Künstlerin Alice Aycock eine turbulente Retrospektive

Aycocks Wirbelsturm-Skulptur „Another Twister (João)“ vorm Sprengel-Museum istlängst zum Selfie-Hotspot geworden Foto: Thomas Bach/Hannover Rück SE

Von Bettina Maria Brosowsky

Still geworden war es in den vergangenen Jahren hierzulande um die Künstlerin Alice Aycock. Immerhin zweimal, 1977 und 1987, war die US-Amerikanerin sehr bemerkenswert auf der Kasseler Documenta vertreten. Ihr damaliges Markenzeichen waren hybride Installationen, so 1977 in der Karlsaue, archaische Architekturen, amerikanische Land und Minimal Art amalgamierend, die auch immer einen Zeitfaktor, etwa der langsamen Aneignung und Veränderung, mit ins Spiel brachten.

35 Jahre nach einer letzten großen Einzelausstellung in Stuttgart widmet ihr nun das Sprengel-Museum in Hannover eine umfangreiche Retrospektive. Auch aus ganz naheliegendem Grund: Von der 1946 geborenen, in New York lebenden Künstlerin stammt der spektakuläre, eigens für den Ort geschaffene und knapp sechs Meter hohe weiße Wirbelsturm, die Metall-Plastik „Another Twister (João)“, der im September 2015 vor dem Haupteingang des Museums aufgestellt wurde.

Mit ihm frischte eine Brise zeitgenössischer Kunst auf, sie sollte, zusammen mit der nur wenige Tage später eröffneten baulichen Erweiterung, das Haus ins 21. Jahrhundert katapultieren. Aber anders als der düstere Anbau, im Volksmund gern als „Maschsee-Brikett“ tituliert, und seine enttäuschend belanglosen Innenräume sendet der Twister tatsächlich ein virtuoses, höchst reflexives Sig­nal in die moderne Gegenwart: Seine Statur ist nämlich die künstlerisch interpretierte, zerstörerische Naturgewalt eines Zyklons oder Tornados, der ja auch um heimische Gefilde keinen Bogen mehr macht.

Binnen kurzer Zeit, so weiß es Museumsdirektor Reinhard Spieler zum Besten zu geben, sei der Twister zum Selfie-Hotspot Hannovers geworden: Egal ob Schulklassen, Kunstaffine oder Fußballfans aus dem nahen Stadion, alle scheinen sie schnell die neue Attraktion für ihre Zwecke entdeckt zu haben, Wirbelsturm hin oder her.

Gefrorene Bewegung

Das zerstörerische Potenzial der Naturgewalt, so Spieler weiter, sei zuvor bereits das treffende Argument beim Sponsor Hannover Rück gewesen, der derartige Unbilden versichert und sein Geschäftsmodell gleichermaßen eindrucksvoll visualisiert wie prominent platziert empfand.

Die Retrospektive bietet nun einen Überblick von frühen Arbeiten ab den 1970er-Jahren bis zu ganz aktuellen Thematiken Aycocks, somit ein Lebenswerk aus etwa 50 Jahren Schaffen. Und mit der Kraft des Windes, wenngleich nur durch vier Industrieventilatoren künstlich erzeugt, beginnt der Rundgang.

In einer ihrer allerersten In­stallationen ließ Aycock die kräftigen Luftströme einen wuchtigen Sandhaufen in ihrem Zentrum transformieren: Langsam wie eine Wanderdüne änderte sich der ursprüngliche Schüttkegel, bis irgendwann der Wind freie Bahne hatte. Dann allerdings neutralisieren sich die jeweils gegenüberliegenden Ventilatoren wechselseitig.

Aus der ephemeren Situationskunst erster Arbeiten wurden bald begehbare Objekte wie Aycocks Reihe der Labyrinthe: spinnennetzartig mit konzentrischen Bretterwänden in der Horizontalen oder als mysteriöses Tunnelsystem in der Vertikalen erstreckt, durch vereinzelte Schachtdeckel per Leiterabstieg zu erkunden.

Psychogeografisch ausgedeutete Schächte und Leitern verbinden Aycock mit zeitgenössischen US-amerikanischen Künstlerkolleg*innen, etwa Gordon Matta-Clark. Ebenfalls auf der 1977er-Documenta knüpfte er eine netzartige Jakobsleiter an einen Kasseler Indus­trieschornstein und trieb wenig später einen abgetreppten Schacht in und unter den Pariser Straßenraum, ein Memorial für seinen gerade verstorbenen Zwillingsbruder.

Dem Wind eine Form geben: Modell für die Skulptur „The Solar Wind“ von 1984 Foto: Dave Rittinger

Aycock blieb dann zunehmend oberirdisch, die Arbeiten wurden monumentaler: Ihre großen Maschinen aus den 1980er-Jahren für den öffentlichen Raum etwa sind verlangsamte oder gefrorene Bewegung, arbeiten mit akustischen Elementen und elektronischen Signalen. Sie sind eine Zwischenstufe zur Beschäftigung mit „Turbulenzen“, dem Schwerpunkt der letzten zehn Jahre, dem auch der Hannoversche Twister entspringt.

Interesse an Turbulenzen

Ein Interesse an Naturphänomenen und entsprechenden Wissenschaften ist hier nun unübersehbar, aber latent ja in Aycocks gesamtem Werk spürbar. Sie verstehe mitunter bloß Sachverhalte nicht ganz richtig, erzählt die Künstlerin. Jedenfalls weise sie ihr Sohn, studierter Naturkundler, gern darauf hin. Stattdessen pflege sie bewusst das Missverstehen im Dienste der künstlerischen Poesie, jedes Werk ist eine Metapher, auch für etwas ganz anderes.

„Between the earth and silence“, zitiert sie aus einem Gedicht des zweifachen Pulitzer-Preisträgers W. S. Merwin – und genauso sind ihre Arbeiten künstlerischer Widerhall letztlich unerklärlicher Antagonismen, etwa der gleichermaßen faszinierenden Schönheit wie zerstörerischen, gefahrvollen Dynamik weltweiter Naturgewalten.

Bis 25. August, Hannover, Sprengel-Museum

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen