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Kristalle schmücken nicht nur Verlobungsringe – ohne sie gäbe es auch weder Smartphones noch Solarzellen. Zu Besuch im Institut für Kristallzüchtung in Berlin

Von Philipp Brandstädter

Sie glitzern und funkeln und sind unheimlich selten. Sie stehen für Reichtum, Macht und Unvergänglichkeit. Manchmal werden ihnen sogar magische Kräfte nachgesagt. Diamanten, ­Rubine, Saphire und Smaragde verleiten Menschen zu halsbrecherischen Klettertouren auf Berggipfel hinauf oder in Höhlen hinein, in der Hoffnung, irgendwo im Gestein einen Schatz zu finden. Denn dort, wo einst Vulkane wüteten, wurden die Steine, die für uns so viel mehr als nur Steine sind, in den Erdschichten an die Oberfläche getragen.

Rein naturwissenschaftlich betrachtet, sind Edelsteine nichts anderes als Minerale, die in der Erdkruste stecken. Sie haben sich unter besonderen Bedingungen gebildet. Durch Druck, Temperatur, Zeit. Und im Zusammenspiel mit bestimmten Elementen.Anders als das Gestein bestehen Minerale aber nur aus einem einzelnen chemischen Element oder einer einzelnen chemischen Verbindung. Diamanten etwa sind reiner Kohlenstoff. Smaragde bestehen aus Beryll. Rubine und Saphire aus Aluminiumoxid, das durch Spuren von Chrom, Eisen und Titan gefärbt wurde.

Unser Interesse wecken die Minerale dann, wenn sie in besonders faszinierenden Farben oder durchsichtig aus dem Gestein wachsen. Oder sagen wir: wenn sie sich herauskristallisieren. Fast alle Feststoffe kommen nämlich auch in kristalliner Form vor. Das bedeutet, dass die Atome in schöner Regelmäßigkeit und mit einheitlicher Struktur angeordnet sind. Ihre flächige, kantige, in festen Winkeln zueinander stehende Struktur wirkt künstlich und natürlich zugleich. Die Reinheit und Perfektion von Kristallen faszinieren uns, selbst die der kleinsten, in Salzkörnern oder Schneeflocken etwa.

Für manche Zwecke sind sie dennoch nicht perfekt genug. Die Kristallzüchter im Institut für Kristallzüchtung in Berlin zum Beispiel züchten Kristalle, deren atomare Struktur so einheitlich und regelmäßig brilliert, wie sie in der Natur niemals vorkommen würde. Die glatten bis leicht geriffelten metallischen Zapfen und Säulen sind teils zentnerschwer und bis zu zwei Meter lang. Sonderlich verführerisch sehen diese Kristalle zwar nicht aus, und sie sind auch nicht gerade selten, doch ohne ihre Eigenschaften wäre unsere hochtechnisierte Welt eine völlig andere.

„Kein Smartphone, kein Computer, keine Sensoren, Detektoren und Solarzellen ohne Kristalle“, ruft Torsten Boeck. Der Experte für Schichten und Nanostrukturen steht in der sterilen Züchtungshalle, wo man weiße Kittel und blaue Plastiktüten mit Gummibund als Überschuhe trägt. Boecks Stimme wird vom Rauschen der Großrechner fortgespült, die im bunten Kabelgewirr mit glänzenden Stahlkammern verbunden sind. Messgeräte und Steuerungseinheiten blinken grün und rot, Piktogramme an den Wänden warnen vor so ziemlich allem.

Seit der Gründung des Instituts für Kristallzüchtung versucht Torsten Boeck, die Natur zu perfektionieren. Er zwingt die Elemente von Kristallen in Reih und Glied, um so ihre Eigenschaften zu verbessern. Was mit den Kris­tallen über Millionen von Jahren unter der Erde passiert, geschieht auch in seinem Labor. Nur wesentlich schneller und lupenrein. Isotopenrein, wie Boeck sagt. „Milliarden von Atomen müssen an der richtigen Stelle stehen, bevor sich eine Lücke oder ein Fremdatom einschleichen darf“, erklärt der Physiker. Nur dann sind Boecks Kristalle gut genug für die unzähligen Tech­nologien, in denen Kristalle verbaut sind.

Die Leuchtdioden in den Lampen und Bildschirmen; die Laser und Uhren, die Scanner an Flughäfen und Supermarktkassen; die Fernbedienungen, Kameras und Datenspeicher; die Nachtsichtgeräte, Radarsysteme, Photovoltaikanlagen, Turbinen, Elektro­motoren; die ganze medizinische Technik, vom Ultraschall- oder Röntgengerät über das Endoskop bis zum Positronen-Emissions-Tomografen; die Kommunikationstechnik: das alles funktioniert nur dank der vielfältigen Eigenschaften künstlich hergestellter, absolut reiner Kristalle.

Der große Nutzen liegt unter anderem in deren energieeffizienter Atomstruktur. Kristalle halten hohe Temperaturen aus, sind besonders hart, manchmal leiten sie Wärme, Strom, manchmal sind sie magnetisch. „Was sie aber für die Industrie besonders interessant macht, ist ihre An­iso­tro­pie“, sagt Boeck. An­iso­trop verhält sich ein Kristall, wenn seine Eigenschaften von der Richtung abhängen. So wie ein Laser nur in eine Richtung strahlt, die Sonne hingegen isotrop, also in alle Richtungen. Die Anisotropie der Kristalle wird in etlichen Technologien gebraucht, vor allem wenn diese elektrischen Strom leiten sollen. Darum werden in Deutschland um die 5.000 Tonnen Kristalle pro Jahr hergestellt, schätzt die Deutsche Gesellschaft für Kristallwachstum und Kristallschätzung.

Das in der Kristallzüchtung mit Abstand am häufigsten verwendete Material ist Silizium. Das Halbmetall kommt in all seinen Formen und Varianten so häufig vor wie Sand am Meer. Genauer gesagt: Silizium ist quasi der Sand am Meer. Ein Viertel der Erdkruste besteht daraus, es ist nach Sauerstoff das zweithäufigste chemische Element auf der Erde. Lieferengpässe hat die Industrie nicht zu befürchten. In Kalifornien wurde sogar eine ganze Region nach dem Element benannt – das „Silicon Valley“, einer der weltweit bedeutendsten Standorte der IT- und Hightechindustrie.

„Milliarden von Atomen müssen an der richtigen Stelle stehen, bevor sich eine Lücke oder ein Fremdatom einschleichen darf“

Torsten Boeck, Institut für Kristallzüchtung

Silizium kann gefördert, eingeschmolzen und nach einer bewährten Zuchtmethode, die schon über hundert Jahre alt ist, in seine kristalline Form verwandelt werden. Beim Czochralski-Verfahren wachsen die Kristalle aus einer Schmelze, die bei etwa 1.400 Grad in einem Tiegel vor sich hin brodelt. In das dickflüssige Silizium wird ein so genannter Impfkristall getaucht, ein bleistiftdünner, atomar makelloser Keim, und in einer Drehbewegung langsam wieder herausgezogen, ohne dass der Kontakt zur Schmelze abreißt. Die Atome aus der Schmelze richten sich dann nach den Atomen im Keim aus, heften sich an ihn, kühlen ab, erstarren – und werden selbst zu einer kristallinen Säule.

Die Temperatur, der Druck, die Rotation – beim Züchten muss alles genau stimmen. „Nur dann ordnen sich die Atome in schöner Regelmäßigkeit und im gleichen Abstand in einem dreidimensionalen Gitter an“, sagt Boeck. Der Physiker hält das würfelförmige Modell eines Kristalls in seinen Händen und dreht es hin und her. Viele Kügelchen, die Atome darstellen sollen, sind jeweils mit vier rechtwinklig angeordneten Drähten verbunden, die Elek­tro­nen darstellen sollen. So stellen wir uns Silizium auf atomarer Ebene vor.

Um bis zu 5 Millimeter wächst ein Siliziumkristall in der Minute. Ist er perfekt gewachsen, wird er schließlich in hauchdünne Scheiben gesägt und blitzblank poliert. Sogenannte Wafer entstehen. In dieser Form erhalten die Hersteller von Elektrotechnik ihr Silizium. Die Wafer dienen meistens als Plattform für integrierte Schaltkreise. Wir kennen sie besser als Mikrochips.

„Je reiner der Kristall, desto besser wandelt er Energie um“, sagt Boeck. Das ist, simpel ausgedrückt, die grundlegende Aufgabe von Kristallen in der Elektrotechnik. Die Umwandlung von Licht in Elektrizität, Wärme in Elektrizität, Elektrizität in Licht. „Was Kristalle allerdings nicht können, ist Energie freisetzen.“ Von Kristallen auf Nachttischen, an Halsketten und in Wasserkaraffen, die Chakren reinigen und unsichtbare Kräfte kanalisieren sollen, hält der Forscher Torsten Boeck deshalb wenig.

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