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Irritation im Vorbeigehen

Präzise Blicke auf ein verträumtes Brasilien vor der Präsidentschaft Bolsonaros: Die Hamburger Freelens-Galerie zeigt malerische Bilder des Straßenfotografen Gustavo Minas

„Moça e Fumaça“ („Mädchen und Rauch“), aufgenommen 2017 in Brasília Fotos: Gustavo Minas

Von Frank Keil

Man könnte beim ersten, noch flüchtigen Rundgang denken: ah, schön bunt! Und auch: ja, rätselhaft! Um sich dann hier und da vorzubeugen und dicht an die Fotografien heranzurücken; um zu erkunden, wie die Bilder des brasilianischen Fotografen Gustavo Minas visuell gebaut sind, dass sie einen schon beim ersten Aufblick so faszinieren. Erst beeindrucken sie wegen ihrer formalen Könnerschaft, dann lassen sie einen leise lächeln. Und am Ende ist man schlicht begeistert.

Da hängt etwa zentral die gewaltige Fotoarbeit mit dem schlichten Titel „Feira“ – „Fest“: Eine junge Kellnerin mit streng zusammengebundenem Haar schaut uns etwas erschrocken an, sie ist gerade dabei, den Tisch abzuwischen, vor dem sie steht und der sich aus dem Bild zu schieben scheint; hinter ihr eine auf verschiedene Tische in verschiedene Ecken aufgeteilte und entspannte Abendgesellschaft. Dort zwei Männer die sich zuprostend die Biergläser leicht erheben; hier vier Personen, die einander zugewandt noch im Raum stehen, ein wenig plaudern und die sich gleich hinsetzen werden, um aus der Menükarte das Passende zu bestellen.

Dann fällt plötzlich auf, dass diese Gäste nur aufgemalt sind, nur Kulisse sind, ein nicht mehr änderbares Hintergrundbild ergeben, um lockere Geselligkeit vorzuspiegeln – während allein die Kellnerin, die zu tun hat, real ist.

Gustavo Minas ist ein Meister der Irritation, der Verfremdung, der Verwirrung auch – im Vorbeigehen. Immer wieder schaut man, wie hier geschaut wurde; überlegt, welche Momente direkt und welche gespiegelt sind und wie der Fotograf es nur vermag, im Vorbeigehen aus dem Moment heraus derart komplexe Situationen nicht nur zu entdecken, sondern auch festzuhalten.

Es gibt zu Gustavo Minas, Jahrgang 1981 und in einer Kleinstadt auf dem Weg von São Paulo nach Brasília aufgewachsen, eine Erweckungsgeschichte, die man wie alle Erweckungsgeschichten nicht allzu wörtlich nehmen sollte, die aber doch den Kern seiner Arbeit herausdestillieren könnte: Da ist der junge Gustavo ein klassischer Journalist, der in São Paulo für eine Tageszeitung aus Papier Tag für Tag und Stunde um Stunde stramm seine Artikel schreibt. Bis zu elf Stunden am Tag, heißt es. Dazu das eine und andere Wochenende.

Das wird ihm eines Tages nicht nur zu viel, das nervt schließlich auch gewaltig. Und er kontaktiert den Fotografen Carlos Moreira, ein großer Name in Brasilien, Fotografie-Professor auch, vordergründig eine ganz andere Generation, noch in der Schwarz-Weiß-Fotografie verwurzelt, Jahrgang 1936. Doch genau von ihm lernt Minas den bildnerischen Umgang mit Schatten und Licht, mit Schärfe und Unschärfe, mit Zufall und mit Spiegelungen, sodass schließlich das, wofür Minas bisher viele Sätze und Buchstaben benötigte, sich nun je in einem einzelnen und vor allem unverwechselbaren Bild konzentriert. Mit wachsendem Erfolg: Allein auf Instagram folgen ihm heute 50.000 Abonnenten.

Gustavo Minas segelt dabei unter dem Label der Straßenfotografie. Das ist einerseits genau richtig, führt andererseits aber zuweilen auch etwas in die Irre. Denn seine Bilder entstehen bis auf wenige Ausnahmen faktisch auf der Straße: in Unterführungen und auf Plätzen; immer wieder kreuzen wir Busbahnhöfe, gehen mit ihm durch Durchgänge, landen auch mal auf öffentlichen Spielplätzen. Und sitzen Minas Protagonisten doch einmal in einem geschlossenen Raum, dann ist es ein Überlandbus, ein Auto, ein Schnellrestaurant am Rande eines Bahnhofes oder in einem Einkaufszentrum. Privat im Sinne von häuslich wird er nie.

Intime Momente des Wartens sind Minas‘ Spezialität: „Guarda-chuvas“, aufgenommen 2016 in Brasília

Die Orte, die wir sehend betreten, werden von denen, die hier sind und meist warten, sobald es geht, schnell verlassen – und genau dafür gibt es sie. Zugleich aber fehlt vielen seiner Momentaufnahmen die soziale Härte, die zuweilen effekt­heischende Rauheit des schonungslosen Aufdeckens, die man gewöhnlich mit Straßenfotografie verbindet. Minas Protagonisten begegnen uns vielmehr zumeist in den stillen und intimen Momenten des dösigen Wartens, des Verharrens; auch des Hoffens, dass es weitergeht, dass man irgendwann ans Ziel kommt, das oftmals „zu Hause“ heißt. Dass der Bus abfährt, sozusagen.

Die Ausstellung, die nun in der Hamburger Galerie Freelens zu sehen ist, ist eine Art Best-of und speist sich aus verschiedenen seiner Serien: Jene, über das morgendliche São Paulo von 2009 bis 2014 oder die Serie über die Busbahnhöfe, von denen aus die so wichtigen Überlandbusse aufbrechen, auch um das riesige Land nicht nur verkehrstechnisch zusammenzuhalten.

Gezeigt wird auch kaleidoskopartig ein urbanes, zuweilen somnambules, manchmal auch verträumtes Brasilien – aus der Zeit vor der Präsidentschaft von Jair Bolsonaro. Der rechte Hardliner ist bekanntlich gerade dabei, das Land radikal umzubauen, etwa den Schutz des Regenwaldes aufzuheben und Quadratkilometer um Quadratkilometer roden zu lassen, so wie er auch öffentlich erklärte, dass er zwei Männern, die sich auf der Straße küssen, ins Gesicht schlagen würde – Ankündigungen, die starke Bilder evozieren. Man darf gespannt sein, wie Minas auf sein brutal neues Brasilien reagieren wird.

Bis 8. August, Hamburg, Freelens-Galerie

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