Land der Lieferanten

Ikea und die Folgen: Warum nur will niemand mehr etwas bringen?

Der Lieblingssatz aller Lieferanten lautet: „Das geht nicht!“ Wer jetzt aufgibt, muss alles allein tragen

Lieferdeutschland war bislang ein weißer Fleck auf der Landkarte meiner Konsumgewohnheiten. Ein Wohnungsumzug sollte das ändern. Und da alle Wege zu Ikea führen, geht es erst mal zu den schwedischen Möbelverkäufern. Allerdings nur im Internet, wo ein Schränkchen bestellt wird. Leider hatte ich das Kleingedruckte im Liefervertrag übersehen, und so findet sich ein paar Tage später die gewohnte gelbe Karte des Paketdienstes im Briefkasten, obwohl ich zu Hause war. Wer sollte es dem Paketboten verdenken, die 30 Kilogramm wollte ich ja auch nicht schleppen. Da das Paketamt aber ungefähr so weit von meiner Wohnung entfernt liegt wie die nächste Ikea-Filiale, darf ich die Lieferung eigenhändig nach Hause tragen.

Der nächste Schrank wird deshalb gleich bei einem anderen Anbieter bestellt. Als aber nach sechs Wochen noch immer keine Nachricht eingetroffen ist, erkundige ich mich vorsichtig nach dem Verbleib des vermissten Möbelstücks. „Der Schrank steht seit drei Wochen hier. Den können Sie abholen“, erklärt mir eine forsche Telefondame. Den wolle ich gar nicht abholen, entgegne ich und bestehe auf der vereinbarten Lieferung. „Na gut, dann liefern wir am Mittwoch um 13 Uhr“, befiehlt die Dame und wischt meinen Einwand, dass ich zu dem Zeitpunkt nicht könne, rigoros beiseite: „Also holen Sie ihn doch ab?“ Nein, man solle mir den Schrank lieber am Wochenende liefern. „Das geht nicht!“, entscheidet die Lieferantin und antwortet auf meine Frage, warum das denn nicht ginge: „Weil das kostet.“ Wie bitte? „Gute Frau“, setze ich nun nach, „es geht also doch!“ – „Ja, aber das kostet 25 Euro!“ – „Ja glauben Sie, ich dachte, das wäre umsonst?“ – „Nein, aber …“

Beinahe gebe ich auf, doch dann willigt die Lieferantin schließlich ein, der Schrank wird am Samstag geliefert, und der Fall ist erledigt! Wenn auch nicht ganz, denn den Schrank liefert ein Komiker. Kaum hat er die Wohnung betreten und das erste Teil abgeladen, fragt er mich: „Kann ich mir mal bei Ihnen die Zähne putzen?“ Damit feiert er sicher bei Hausfrauen die ganze Woche über große Erfolge. Ich weise ihm, ohne die Miene zu verziehen, den Weg, und der Komiker verbringt eine längere Zeit mit dem, was er Zähneputzen nennt. Hauptsache, ich habe meinen Schrank.

Es hilft nichts: Einmal im Leben muss man eben eine Ikea-Filiale ansteuern. Der nächste Schrank wartet, dessen Gewicht sich aber im Lager als so schwer herausstellt, dass Lieferung die einzige logische Lösung ist. Ob man mir diesen Schrank liefern könne, frage ich eine Verkäuferin. „Nein, das geht nicht!“ Aber es gebe doch ein Lieferangebot, weise ich die Frau auf die großflächigen Werbetafeln neben ihr hin. „Ja, aber das kostet!“ – „Gute Frau“, setzte ich nach, „es geht also doch!“ – „Aber das kostet 22 Euro!“ – „Ja glauben Sie, ich dachte, das wäre umsonst?“ – „Nein, aber …“

Beinahe gebe ich an dieser Stelle auf. Jetzt verstehe ich, warum bei Ikea selbst Fünfjährige auf ihren schmalen Schultern klaglos 100-Kilo-Schränke nach Hause balancieren. Endlich erbarmt sich die gelbblaue Verkäuferin und schickt mich mit einem Formular erst zur Kasse, dann zum Lieferanten.

Der Lieferant erwartet mich schon mit breitem Grinsen hinterm Tresen, offenbar ist er bereits in den sensationellen Fall eingeweiht. „In Deutschland muss es ja noch Leute geben, denen es richtig gut geht“, nimmt er mein Formular entgegen, „wenn sie dafür 22 Euro zahlen.“ Wie bitte?, denke ich und erinnere mich zum Glück daran, dass Schlagfertigkeit nur etwas für Untergebene ist, also beschränke ich mich auf ein knappes „Genau!“. Doch den Lieferanten spornt meine spröde Einsilbigkeit nur an und er winkt einen Kollegen heran, dem er das Formular unter die Nase hält: „Kuck ma’: 22 Euro. Dafür könnten wir schon zwei Flaschen Wodka kaufen!“ Feixend sehen die beiden Lieferanten zu dem Trottel vor ihrem Tresen herüber.

Es gibt jetzt nur drei Möglichkeiten: Entweder ich zerreiße sofort den Kontrakt, und dem Lieferanten entgeht das 22-Euro-Geschäft; allerdings würde ich dann mit einem 80-Kilo-Paket allein dastehen. Oder ich beschwere mich über das herablassende Gebaren des Lieferanten, der sicherlich nur angestellt ist; dann wird es jedoch einen Hartz-IV-Kandidaten mehr geben, so sind die harten Zeiten. Oder ich schlucke den Groll herunter – und das tu ich dann auch; der Schrank wird geliefert; und am Ende ist alles, alles gut.

Wenige Tage später ruft der Ikea-Service bei mir an. Es sei nur eine Routine-Nachfrage, ob denn tatsächlich alles gut gelaufen wäre bei Kauf und Lieferung. Eine Sekunde lang denke ich daran, mich doch noch über den Lieferanten als solchen und im allgemeinen zu beschweren. Aber am Telefon jemanden denunzieren – nein, das geht gar nicht. Es sei alles einwandfrei und wunderbar gewesen, berichte ich der darüber hoch erfreuten Telefondame.

Alle wollen berühmt sein, aber niemand will mehr rühmen, schrieb einmal Robert Gernhardt. Alle wollen beliefert werden, aber keiner mehr liefern, könnte man es in Anlehnung an Gernhardt auf eine simple Formel bringen. Aber ganz so einfach ist es leider nicht. Denn in Lieferdeutschland will niemand mehr beliefert werden und niemand will mehr liefern. Wie dieses Land überhaupt noch funktioniert, ist mir mittlerweile ein vollkommenes Rätsel. MICHAEL RINGEL