: Der Pastor und die Bücher aus dem Müll
Seit 14 Jahren klaubt ein niedersächsischer Pfarrer Bücher von ostdeutschen Müllhalden, aus Kellern und Abfallcontainern. Wissenschaftler aus dem In- und Ausland, aber auch interessierte Leser nutzen sein Archiv der weggeworfenen DDR-Literatur, das er jeden Sonntag nach dem Gottesdienst öffnet
von Reimar Paul
Die Geschichte der Bücherrettung hat Martin Weskott akribisch dokumentiert. Mit all den Anfragen, Briefwechseln und Zeitungsausschnitten, die sich in fast 15 Jahren angesammelt haben, konnte der evangelische Pfarrer aus Katlenburg – einem Dorf bei Göttingen – bereits mehrere Ordner füllen. Ganz unten im Stapel, fast schon vergilbt, heftet die Kopie eines Agenturfotos vom Juni 1991. Es zeigt eine Müllkippe bei Plottendorf in der Nähe von Leipzig. In der Kuhle liegen Abfälle und Gerümpel – und ein großer Haufen Bücher.
„Dass in der Kulturnation Deutschland Literatur buchstäblich untergepflügt wird, hatte ich bis dahin nicht für möglich gehalten“, sagt Weskott, 14 Jahre nachdem er das Bild zum ersten Mal zu Gesicht bekommen hatte. In den politischen Turbulenzen von Wende und Wiedervereinigung hatten viele ostdeutsche Verlage und Buchhandlungen ihr gesamtes Sortiment auf den Müll kippen lassen – aus Angst vor Absatzproblemen oder auf Anweisung der neuen Besitzer. In der sich auflösenden DDR hatte nur noch Konjunktur, was aus dem Westen kam. Das galt auch für die Kultur.
Weskott und einige Mitstreiter aus der Katlenburger Kirchengemeinde machten sich umgehend auf den Weg nach Plottendorf. Sie krochen durch ein Loch im Maschendrahtzaun auf den Müllplatz und starrten entsetzt auf die vom Schimmel angefressenen Bücher. „Die lagen da herum“, beschreibt der Pfarrer seinen ersten Eindruck, „als seien sie von einem Miststreuer ausgespuckt worden“. Halb bedeckt von Altpapier und Erde gammelte Heinrich Mann neben Arnold Zweig, Ernesto Cardenal neben Eduardo Galeano, Tolstoi neben Dostojewski. Beim Herumstöbern und -stochern fanden die Katlenburger weitere Werke. Horst Eberhard Richters „Die hohe Kunst der Korruption“, Stefan Heyms „Stalin verlässt den Raum“ und Schriften des Preußenkönigs Friedrich II. Auf einer anderen Palette Bildbände über Volkskunst, den Dresdner Zwinger, Kinderbücher, Landkarten.
Seitdem war Weskott an die zweihundert Mal in den neuen Ländern unterwegs. Er suchte und fand Bücher in Abfallcontainern und Hinterhöfen, in Kellern und Speichern, bei aufgegebenen Verlagen und in verrammelten Antiquariaten. Seine Schätze, rund eine Million Bände bis heute, transportierte der Pfarrer im Lastwagen eines befreundeten Getränkehändlers nach Katlenburg. Ein Ende der Bücherrettungsreisen in den Osten ist noch längst nicht abzusehen. „Wenn sich zum Beispiel keiner mehr findet, der die Restbestände aus einer früheren Betriebsbücherei betreuen will, dann klingelt hier das Telefon“, erzählt der Pastor.
Weskott will die Literatur aber nicht nur aufheben, sondern für Leser und Leserinnen verfügbar machen. Rund die Hälfte der von ihm nach Niedersachsen geschafften Bücher hat inzwischen neue Besitzer gefunden. Sonntags nach dem Gottesdienst schließt Weskott das historische Magazingebäude neben der Kirche auf, in dem die Bücher lagern. Dann drängen sich Besucher aus nah und fern – auffällig viele kommen aus den neuen Bundesländern – in dem engen Gewölbe. Sie stöbern in den Büchern, die in meterhohen Stapeln in provisorischen Regalen oder auf dem blanken Steinboden liegen.
Ein Ehepaar aus Erfurt ist schon zehn Mal nach Katlenburg gekommen. „Es ist unglaublich“, sagt die Frau, „wie Menschen das, was wir hier finden, einfach wegwerfen konnten“. Waschkörbeweise schleppen die Leute den Lesestoff in ihre Kofferräume. Die Bücher kosten schließlich nichts. Nur um eine Spende für „Brot für die Welt“ bittet Weskott. Mehr als 100.000 Euro hat die Katlenburger Kirchengemeinde seit dem Sommer 1991 an die evangelische Hilfsaktion überwiesen.
Längst fragen auch Universitäten, Bibliotheken und andere Einrichtungen aus dem In- und Ausland in Katlenburg nach Literatur. Der Pomologen-Verein Nordrhein-Westfalen erbat Fachliteratur zum Thema Obstanbau, der Bundesgerichtshof wollte juristische Standardwerke aus der DDR. Der Physiker Hans Lauche vom Max-Planck-Institut für Aeronomie wühlte sich einen ganzen Tag lang durch Weskotts Bestände und schleppte schließlich 100 Titel in sein Institut ab. Er hatte in den DDR-Werken Hinweise auf Materialkombinationen entdeckt, die ihm zum Bau eines Spektral-Fotometers hervorragend geeignet erschienen. Mit dieser Apparatur rüstete das Max- Planck-Institut schließlich die Saturn-Sonde Cassini aus.
Bis nach China ist Weskotts Müll-Archiv bekannt: Sie habe „von Ihrem spektakulären Bücherfund gehört“, schrieb eine Deutschlehrerin der Pekinger „Nanjing School of Foreign Language“ an die Katlenburger Kirchengemeinde. Und bat um Zusendung einiger Dutzend Bücher für die Schulbibliothek. „Lastwagenweise“, berichtet Weskott, habe er Bücher schon ins Ausland geschickt. Pakete gingen nach Russland und in die Ukraine, nach Albanien und nach Kuba, und kürzlich brachte Weskott Sendungen auf den Weg nach Sarajewo in Bosnien und ins serbische Novi Sad. Für die kürzlich eröffnete „Bibliothek im Eis“, in der sich Antarktis-Forscher die langen und dunklen Abende vertreiben können, will Weskott ebenfalls Bücher spenden.
Durch die Bücherrettungsaktion sei Katlenburg zu „einem riesigen Literaturarchiv, zu einem Ort der Begegnung mit deutscher Gegenwartsgeschichte“ geworden, sagt der Pfarrer. Zu diesem Ruf haben auch die rund 150 so genannten „Müll-Literaten“ beigetragen – zumeist ostdeutsche Autoren, die ihre vor dem Verfall geretteten Werke bei Lesungen im Gemeindehaus vorgestellt haben. Christa Wolf, Dieter Mucke, Erich Loest und Christoph Hein waren schon da, aber auch viele unbekanntere Schriftsteller. Ihnen hat Weskott mit seinen Einladungen ein Forum verschafft. „Leute, die bei den Lesungen dabei waren, haben jetzt ein ganz anderes Bild von DDR-Literatur“, ist der Pfarrer überzeugt.
Für sein Engagement hat Weskott inzwischen eine Menge Auszeichnungen erhalten, vom „Göttinger Lorbeer“ der Literarischen Gesellschaft bis hin zum Bundesverdienstkreuz. Eine US-amerikanische Universität will den bibliophilen Gottesmann aus dem Harzvorland noch dieses Jahr zum Ehrendoktor machen. Ein Wunsch ist dem Pfarrer allerdings versagt geblieben. Ex-Bundespräsident Richard von Weizsäcker mochte die Schirmherrschaft für die Bücherrückholaktion nicht übernehmen. In einem Brief bat Weizsäckers Büro um Verständnis für „besondere Hinderungsgründe“: Weizsäcker ist als Autor in die Angelegenheit unmittelbar involviert. Bei einer seiner Touren nach Sachsen hatte Weskott auch 1.000 Exemplare eines 1990 im Verlag der Nationen erschienen Sammelbandes mit Reden Weizsäckers gefunden.