Denkdichtes Innenleben
Vom Versuch, die Welt des Autisten Birger Sellin zu ertanzen: Das LOT Teatro aus Peru sowie das kolumbianische Colegio del Cuerpo auf Kampnagel
von Petra Schellen
Una muestra heißt eins der kolumbianischen Stücke, die in der kommenden Woche beim Laokoon-Festival auf Kampnagel zu sehen sein werden. Materia Material ein anderes, in Peru einstudiert vom LOT Teatro des Carlos Cueva, der das freie Projekt 1984 in Braunschweig gegründet hat.
In Peru, Kolumbien, Frankreich und Deutschland hat Cueva bereits als Regisseur und Choreograph gearbeitet und internationalen Ruhm erlangt. Und doch wird seinen Tänzern allenfalls provisorisch gelingen, was Worte schon nicht schafften: dem Zuschauer, dem Außenstehenden Einblicke in die Gefühlswelt eines Autisten zu verschaffen, der allenfalls über gedruckte Worte den Weg aus der Isolation findet: Den Poetismen des inzwischen 25-Jährigen deutschen Autisten Birger Sellin, der seit sieben Jahren romanschreibend in Erscheinung tritt, wird das Ensemble in der fensterlosen Kampnagel-Halle folgen. Surrealistisch fremd wirken Mienen, Gesten und Requisiten, die dabei Verwendung finden.
Wie ein Ausflug in ein gigantisches Inneres nimmt sich der Tanz des LOT Teatro aus, wie ein Konglomerat aus nicht begreifbarer Handlungen, deren Zusammenhang sich keinesfalls durch Logik erschließt. Aber vielleicht wäre das auch gar keine Hilfe beim Versuch, fremde Empfindungen in Kunst zu transponieren – ein Versuch, der immer die Gefahr des Dekorativen birgt. Ob das peruanische Ensemble diese Grenze überschreitet und ein Krankheitsbild nutzt, um voyeuristisch Intensität zu suggerieren, wird zu beurteilen bleiben.
Über „Körper – Spiegel – Welten“ möchte Laokoon-Leiter Alvaro Restrepo im diesjährigen Programm reflektieren und dabei gängige Kolumbien-Klischees konterkarieren. An einigen Abenden praktiziert er das sehr direkt: Das vor acht Jahren von ihm und der Choreographin Marie France Delieuvin gegründete Colegio del Cuerpo, in dem ehemalige Straßenkinder ausgebildet werden, wird sich auf Kampnagel mit dem Resultat zweier Workshops präsentieren. Mit Regisseur Nicolas Stemann, der bereits an Schauspielhaus und Thalia Theater inszenierte, haben die Jugendlichen das Stück Una Muestra (Ein Muster) einstudiert, das den Antigone-Stoff auf das heutige Kolumbien überträgt. Und da Restrepo in seiner diesjährigen „Akte Kolumbien“ mindestens eine Innensicht präsentieren wollte, hat er hat er für einen weiteren Auftritt des Colegio des Cuerpo die Sängerin Petrona Martinez eingeladen. Sie soll in Reconquista, einer Hommage an die 2001 verstorbene Delia Zapa Olivella, assistieren, für die das 1997 uraufgeführte Stück ursprünglich gedacht war.
LOT Teatro/Carlos Cuiva: Materia Material: 18.-20.8., 22 Uhr.El Colegio del Cuerpo/Nicolas Stemann: Una Muestra: 19.8., 20.30 Uhr.El Colegio del Cuerpo/Petrona Martinez: 23.8., 20 Uhr. Kampnagel. www.kampnagel.de
