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Archiv-Artikel

Polizei in Bedrängnis

VON RALF SOTSCHECK

Er war weder über eine Absperrung gesprungen noch trug er eine ungewöhnlich dicke Jacke. Jean Charles de Menezes, der 27-jährige brasilianische Elektriker, der von der britischen Polizei am 22. Juli in der Londoner U-Bahn-Station Stockwell durch acht Schüsse getötet wurde, hatte offenbar gar nicht bemerkt, dass ihm die Beamten gefolgt waren. Das geht aus Aussagen der beteiligten Zivilpolizisten hervor, die sie vor dem unabhängigen polizeilichen Untersuchungsausschuss gemacht haben. Diese Aussagen sind dem Fernsehsender ITV zugespielt worden.

Demnach hatten Zivilbeamte ein Haus in der Scotia Road beobachtet, in dem sie zwei Attentäter vermuteten, deren Anschläge auf drei U-Bahnen und einen Bus am Vortag fehlgeschlagen waren. Als de Menezes das Gebäude verließ, konnte er nicht identifiziert werden, weil der zuständige Beamte auf der Toilette war. Einer der Polizisten sagte: „Keine Person, die das Gebäude verließ, durfte weglaufen. Wir sollten sie so bald wie möglich festnehmen, aber erst in sicherer Entfernung, damit andere in dem Gebäude nicht gewarnt würden.“

De Menezes, mit einer leichten Jeansjacke bekleidet, nahm den Bus zum U-Bahnhof Stockwell, steckte seine Fahrkarte in das automatische Drehkreuz, nahm eine kostenlose Zeitung aus einem Blechbehälter und fuhr dann die Rolltreppe zum Bahnsteig hinab. Er begann erst zu rennen, als er merkte, dass die U-Bahn abfahrbereit war. Das ist durch Aufnahmen aus Überwachungskameras belegt. Doch was geschah dann?

Ein Zivilbeamter, der in der U-Bahn saß, behauptet laut ITV, dass er de Menezes überwältigen konnte. „Ich hörte Rufe, das Wort ‚Polizei‘ fiel, ich drehte mich um und stand vor dem Mann in der Jeansjacke“, sagte er. „Er stand auf und kam auf mich zu. Ich packte ihn, indem ich meine beiden Arme um seinen Körper schlang, wodurch seine Arme an der Seite festgeklemmt waren. Ich drückte ihn zurück auf den Sitz, auf dem er zuvor gesessen hatte. Dann hörte ich einen Schuss sehr dicht an meinem linken Ohr, danach wurde ich auf den Boden des Waggons gezogen.“

Augenzeugen hatten dagegen berichtet, dass der Brasilianer bereits an der Tür der U-Bahn gestolpert, von drei oder vier Beamten zu Boden gedrückt und mit mehreren Kopfschüssen getötet worden sei. Die Polizei hatte zunächst behauptet, dass de Menezes eine für die Jahreszeit ungewöhnlich dicke Jacke trug und über die Absperrung am Eingang zur U-Bahn gesprungen sei, weshalb man ihn für einen Selbstmordattentäter hielt.

Londons Sicherheitskräfte waren nach den beiden Anschlagserien vom 7. und 21. Juli in höchste Alarmbereitschaft versetzt worden. Die bewaffnete Sondereinheit wurde informiert, dass sie möglicherweise „ungewöhnliche Taktiken“ anwenden müsse: Todesschüsse, falls ein Individuum sich der Festnahme widersetzen würde. Das war bei de Menezes jedoch nicht der Fall. Die Familie von de Menezes verlangte gestern, dass die verantwortlichen Polizisten des Mordes angeklagt werden. Harriet Wistrich, die Anwältin der Familie, sagte, die neuen Informationen seien „schockierend und erschreckend“. Sie fragte: „In was für einer Art von Gesellschaft leben wir denn, wenn wir Verdächtige einfach exekutieren können?“

John O’Connor, ein ehemaliger Armee-Kommandant, sagte, die durchgesickerten Aussagen seien sehr peinlich für den Polizeichef Ian Blair. O’Connor glaubt, dass er möglicherweise seinen Hut nehmen müsse. „Hätte man nach den üblichen Regeln gehandelt, wonach eine Warnung gerufen wird und die Beamten identifizierbare Kleidung getragen hätten, wäre dieser junge Mann vielleicht nicht getötet worden“, sagte O’Connor. Weder Scotland Yard, noch das Innenministerium wollten sich zu den ITV-Behauptungen äußern, solange der Untersuchungsbericht nicht vorliegt.